Spengler auf Deutsch 4: Chalabi, Schneewittchen und Pinocchio (nur für Erwachsene)

Der Originaltext erschien am 5. November 2015 in Asia Times und PJMedia,

übersetzt von Stefan O. W. Weiß

Meredith Willsons kitschige Broadway-Show “The Music Man” illustriert eine rätselhafte Seite amerikanischer Außenpolitik: Warum beharren Amerikaner in dem Glauben, dass sie die Welt nach ihrem eigenen Bild neuerschaffen können, trotz überwältigender Beweise für das Gegenteil? Wir Amerikaner lieben Gauner und Schwindler, die an unseren nationalen Narzissmus appellieren, selbst wenn wir wissen, dass sie Gauner und Schwindler sind. Willsons Held ist ein Spitzbube zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der sich selbst zum Musiklehrer ernannt hat und in Kleinstädten des Mittleren Westens Musikinstrumente für Blaskapellen verkauft, mit dem Versprechen, er werde die örtlichen Kinder in ihrem Gebrauch unterrichten – aber verschwindet, bevor er seinen Teil der Abmachung eingehalten hat. In einer Stadt in Iowa wird der „Musikmann“ auf frischer Tat ertappt, aber die Leute verzeihen ihm, gerührt von der Wärme seiner Schmeichelei. Er hat eine lange Liste von Vorgängern wie Mark Twains Tom Sawyer und Sinclair Lewis‘ Elmer Gantry.

Der irakische Politiker Ahmad Chalabi, dessen Tod in der letzten Woche die Kontroverse über den Krieg im Irak 2003 wiederaufleben ließ, lebt in den Herzen der Neokonservativen aus demselben Grund, aus dem die Bürger von River City in Iowa Willsons Schwindler umarmten. Er enthüllt die bessere Seite des amerikanischen Charakters: Wir sind zu dumm, um über die Politik anderer Länder zu lügen, die wir ebenso gut wie Sanskrit verstehen, und wir haben keine Waffe gegen Soziopaten, die lügen, wann immer sie ihre Lippen bewegen. Es gibt wenige genuin amerikanische Witze: einer fragt, was Schneewittchen zu Pinocchio sagte („Lüg mich an“)[1]. Wir Amerikaner lieben es, wenn die Pinocchios der Außenpolitik uns anlügen. Diejenigen, welche amerikanische Demokratie als Exportartikel ansehen, sind immer noch in Chalabi verliebt.

Seth Lipsky rühmte Chalabi als “den führenden Tribun der Idee eines freien und demokratischen Iraks”. Chalabi trug dazu bei, die Bushregierung zu überzeugen, dass Saddam Nuklearwaffen baute und dass eine amerikanische Invasion die Demokratie in seinem Land etablieren könnte. Er riet auch zu sogenannten „Debathifikation“, dem Programm, welches nahezu die gesamte sunnitische Elite aus zivilen und militärischen Machtpositionen entfernte und so die Sunniten in eine gewalttätige Opposition trieb, die in ISIS kulminierte.

Chalabi verriet angeblich amerikanische Geheiminformationen an den Iran, lange bevor er sich den vom Iran kontrollierten schiitischen Milizen anschloss. Die New York Times berichtete 2004, „Ahmad Chalabi, der irakische Führer und frühere Alliierte der Bushregierung enthüllte einem iranischen Funktionär, dass die Vereinigten Staaten den Geheimcode des iranischen Geheimdienstes entschlüsselt hatten und verriet so eine der wertvollsten Informationsquellen Washingtons. So berichten Angehörige amerikanischer Nachrichtendienste“. Chalabis Anhänger im Verteidigungsministerium behaupten nach wie vor, dass die „Central Intelligence Agency“ (CIA) oder die „National Security Agency“ diese Anschuldigungen erfunden haben. Ich habe Freunde auf beiden Seiten der Bushregierung (oder zumindest Personen, die meine Freunde waren, bevor ich diesen Text publizierte) und kann keine der wesentlichen Anschuldigungen nachprüfen. Das Problem ist eher, dass das, was Chalabi den Neokonservativen verkaufte, offensichtlicher Unsinn war.

Seth Lipsky beschreibt ein Abendessen mit Chalabi aus dem Jahr 1998, in den Büros des „Forward“, der ehrwürdigen (und jetzt linkslastigen) jüdischen Tageszeitung:

„Während des Essens saß Herr Chalabi neben Robert Bartley, dem Herausgeber des Wall Street Journal. Nur wenige Tage zuvor hatte Bartley seinen Redakteuren gesagt, er wolle nicht länger mit arabischen Diktatoren verhandeln. Stattdessen wolle er mit demokratischen Idealisten im Exil zusammentreffen.

Beim Essen wandte sich Jonathan Rosen, einer der Herausgeber des Forward, an Herrn Chalabi und fragte nach seiner Stellung zu Israel. Der Raum versank in Schweigen. Herr Chalabi erinnerte uns daran, dass Bagdad vor dem Zweiten Weltkrieg eine so große jüdische Bevölkerung gehabt hatte, dass es als Wilna des Nahen Ostens bekannt war. Juden saßen in der Regierung. Meine Politik für einen demokratischen Irak, sagte Herr Chalabi, ist, dass ich sie zurückhaben will.

In all den Jahren, in denen ich über den Nahen Osten berichtet habe, habe ich nie einen arabischen Führer so sprechen hören. Es ist nicht so, dass Israel das einzige Thema gewesen wäre, weder für ihn noch für den Forward. Aber Herr Chalabi war einzigartig durch seine Abwesenheit von Xenophobie wie auch durch seine Wertschätzung für Ideen, Märkte und die Sache der Demokratie.“

Ich kannte den verstorbenen Bob Bartley gut. Mein Geschäftspartner in den späten 80er und frühen 90er Jahren war sein Famulus, Jude Wanniski, der entdeckte, was er dann „angebotsorientierte Wirtschaftspolitik“ nannte; er wurde ihr erster Apostel im Herausgebergremium des „Wall Street Journal“. Zur Belustigung des mürrischen kanadischen Genius der Wirtschaftswissenschaften, der die zugrundeliegende Theorie formulierte, erweckte der Leitartikel des Journals den Glauben, man habe die magische Formel entdeckt, mit der jede Gesellschaft dieser Welt zu heilen wäre. Bartley und Wanniski waren kluge und wohlmeinende Journalisten, aber keiner von ihnen beherrschte eine Fremdsprache, reiste öfter ins Ausland oder wusste irgendetwas über andere Kulturen.

Chalabi wurde für seine Schmeichelei belohnt mit acht Millionen Dollar pro Jahr, der öffentlichen Finanzierung für seinen irakischen Nationalkongress, und verdeckten Zahlungen in unbekannter Höhe von 1998 bis 2004, als das Verteidigungsministerium die Gelder kappte. Man ist perplex, wenn man die begeisterten Erinnerungen an Chalabi liest, selbst nachdem er sich mit den radikalsten proiranischen Elementen in der irakischen Politik verbündet hatte. „Viele von uns wankten nie in unserer Bewunderung für ihn, selbst wenn er eine komplexe Persönlichkeit war,“ erklärte Seth Lipski. „Komplex“, meint doppelzüngig. Wie Eli Lake bei „Bloomberg News“ schrieb:

„Chalabis postamerikanische politische Karriere beweist, dass seine Anhänger zu Beginn des 21. Jahrhunderts ihn nicht verstanden haben. Chalabis politische Alliierte in dieser Zeit, Männer wie Moktada al-Sadr, waren militante, fundamentalistische Demagogen. Sie waren die Partei der brutalen schiitischen Milizen, die heute – zusammen mit dem Islamischen Staat – den Irak zerreißen. Obwohl Chalabi privat ein säkularer Mann war, spielte der gern die Rolle eines schiitischen Islamisten. Seine Organisation verbündete sich gern mit den vom Iran unterstützten Einsatzgruppen, die 2007 amerikanische Soldaten angriffen. Das war ein weiter Weg von der hoffnungsvollen Demokratie, welche Chalabi seinen Zuhörern in Washington versprochen hatte.“

In den „New York Daily News“ schwärmt die frühere “Forward” Reporterin Ira Stoll: “Für mich war Chalabi der irakische Samuel Adams[2], der revolutionäre Führer, der inspirierte, agitierte, überzeugte und durchhielt angesichts überwältigender Übermacht, als alle anderen aufgaben“. Die Einsicht, dass manche Länder keinen Sam Adams haben und nie einen Sam Adams haben werden, ist einem Neokonservativen einfach nicht zu vermitteln. Wie der letzte akademische Marxist werden sie in der Überzeugung sterben, dass die Theorie richtig war und nur ihre Anwendung fehlerhaft. Irgendwie gelang es ihnen, das Vertrauen von George W. Bush zu gewinnen; so taten sie mehr, um Amerikas Macht und Glaubwürdigkeit zu unterminieren, als alle erklärten Feinde Amerikas zusammen.

[1] Der vollständige Witz, so wie ich ihn im Internet fand: Schneewittchen sieht Pinocchio durch den Wald gehen. Sie schleicht sich von hinten an, schlägt ihn nieder, setzt sich auf sein Gesicht und ruft: „Lüg mich an, lüg mich an“! (Anmerkung des Übersetzers).

[2] Der Organisator der Bostoner „Tea Party“ (1773), mit welcher der amerikanische Unabhängigkeitskrieg begann (Anmerkung des Übersetzers).

Autor: Stefan O. W. Weiss

Leon de Winter zählte die Kolumnen von David P. Goldman, besser bekannt unter seinem nom de plume „Spengler“, „zu den allerinteressantesten, die es weltweit zu lesen gibt“. Seine Texte, die er meist in „Asia Times“ und „PJMedia“ veröffentlicht, haben eine Leserschaft gefunden, die in die Hunderttausende geht. Er behandelt so verschiedene Themen wie Philosophie, Literatur, Wirtschaftswissenschaften, Theologie, Strategie, Weltpolitik, Musik und andere mehr mit gleicher Souveränität und Kompetenz. In Deutschland ist er ein Geheimtipp geblieben, bedauerlicherweise, da er ein vorzüglicher Kenner der deutschen Geistesgeschichte ist. Seine Essays über Wagner, Goethe, Schiller seien doch wenigstens en passant erwähnt. Um dem deutschen Leser die Lektüre zu erleichtern, beabsichtige ich, in diesem Blog seine Texte fortlaufend in Deutsche zu übersetzen. Ich habe dieses Projekt seit einigen Monaten verfolgt, der erste hier auf Deutsch veröffentliche Text stammt vom Oktober 2015. In den kommenden Wochen gedenke ich, seine nachfolgenden Texte in chronologischer Reihenfolge zu veröffentlichen, bis der Anschluss zu Gegenwart erreicht ist.

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