Spengler auf Deutsch 6: Wladimir Putin, Führer der Freien Welt

Die Originalfassung erschien unter dem Titel „Vladimir Putin, Leader of the Free World“, zuerst in Asia Times am 18. November 2015.

Übersetzt von Stefan O. W. Weiß.

Wäre Michail Bulgakow unter die Lebenden zurückgekehrt und hätte eine levantinische Fortsetzung zu „Der Meister und Margarita“ geschrieben, er hätte kein grelleres Szenario entwerfen können als das, was wir jetzt in Syrien sehen. Der russische Präsident Wladimir Putin ist jetzt der Führer der freien Welt gegen den islamistischen Terrorismus, er dirigiert die Anstrengungen Frankreichs und Deutschlands und stellt die Bedingungen für amerikanische Mitwirkung. Angeschlagen durch das letztwöchige Massaker in Paris fehlt Frankreich sowohl das Rückgrat wie auch die Kraft sich an dem ISIS zu rächen, aber im Bündnis mit Russland wird es mehr als einen symbolischen Beitrag leisten.

2008 befürwortete ich – im Scherz natürlich – Putins Kandidatur für das amerikanische Präsidentschaftsamt. Nun führt er Amerikas Präsident am Nasenring und leitet die Antiterrormaßnahmen von Frankreich und Deutschland. Niemand hätte in den letzten Wochen Putins plötzlichen Aufstieg zu globalen Führerschaft erwartet. Russland ist in der Lage eines Aasgeierfonds, der die Ramschanleihen der westlichen Allianz zum Spottpreis aufkauft. Angesichts eines amerikanischen Präsidenten, der nicht kämpfen will, und seiner europäischen Alliierten, deren militärische Kapazität nahezu insignifikant geworden ist, ergreift die Russische Föderation das Steuer durch den Einsatz von lediglich drei Dutzend Kampfflugzeugen und eines Expeditionskorps von 5000 Mann. Vergeblich sucht man in der Geschichte der Diplomatie einen anderen Fall, wo so viel mit so wenig unternommen worden ist. Als Amerikaner fühle ich eine tiefe Demütigung durch diese Wendung der Ereignisse, nur wenig gemildert durch „Schadenfreude“ (auch im Original deutsch) über die noch tiefere Demütigung von Amerikas außenpolitischem Establishment.

Die Welt richtet sich nach anderen Regeln, als sie es noch vor wenigen Wochen tat. Putin hat die Frage beantwortet, welche ich im September stellte („Wladimir Putin, Intrigant oder Staatsmann?“). Präsident Obama erklärte auf dem Gipfeltreffen von Antalya am 17. November: „Von Beginn an habe ich Moskaus Aktionen gegen ISIL begrüßt… Wer werden abzuwarten haben, ob Russland tatsächlich seine Aufmerksamkeit Zielen widmet, die ISIL-Ziele sind. Wenn das der Fall ist, wäre das zu begrüßen”. Nach den russischen und französischen Luftangriffen in dieser Woche auf ISIS-Stellungen in Rakka ist das eine rein akademische Frage. Mitt Romneys Erklärung, dass Russland Amerikas größte geopolitische Bedrohung sei, scheint aus einem anderen Zeitalter zu stammen. Ganz im Gegenteil ist es Russland, das Amerikas Kastanien aus dem Feuer holt. Obama ist völlig inkompetent; wenn der nächste amerikanische Präsident vereidigt werden wird, wird die Welt anders aussehen. Ukraine? Nie gehört.

Obama will folgen, nicht führen, wie er Reportern in Antalya mitteilte: “Woran ich nicht interessiert bin, ist auf der Anerkennung der führenden Rolle Amerikas oder eines siegreichen Amerikas zu bestehen, oder wie auch immer die Sprüche von denjenigen lauten, die keine Ahnung von dem haben, was derzeit getan wird, um das amerikanische Volk zu schützen und die Bevölkerung in der Region zu schützen, wo sie getötet wird, und unsere Verbündeten und Völker wie Frankreich zu schützen. Ich bin zu beschäftigt für sowas“. Russland freut sich, ihm Gelegenheit zum Folgen zu geben. Obamas Zurückhaltung, amerikanische Bodentruppen einzusetzen, zusammen mit Einsatzvorschriften für die Luftwaffe, die so zurückhaltend sind, dass bei nur einem von vier amerikanischen Einsätzen gegen ISIS die Flugzeuge ihre Bomben abwerfen, handicapt Amerika. Die Russen sind nicht zimperlich, wenn es um Kollateralschäden geht, und wahrscheinlich erheblich effektiver. Mittlerweile hat Putin seine Offiziere angewiesen: “Eine französische Kampfgruppe geführt von einem Flugzeugträger wird bald auf diesem Kriegsschauplatz eintreffen. Stellen sie direkten Kontakt mit den Franzosen her und arbeiten sie mit ihnen als Verbündeten zusammen.“ Was für eine Art von Bündnis das sein wird, ergibt sich aus den Zahlen. Die russische Luftwaffe verfügt über 67 Staffeln moderne Kampfflugzeuge (gegen Frankreichs 11), einschließlich 15 Bomberstaffeln (die Franzosen stellten ihre Mirage VI-Bomber 1996 außer Dienst) und 14 Jagdbomberstaffeln. 25 Staffeln fliegen Erdkampfflugzeuge, die etwas leichter als die amerikanische A-10 „Warthog“ sind, vor allem SU-24 und SU-25. Auch unter Berücksichtigung der schlechten russischen Instandhaltung, derentwegen viele Flugzeuge nicht einsatzbereit sind, hat Russland eine erheblich stärkere Luftmacht als sein französischer Alliierter.

Um mehr als einen symbolischen Beitrag zum Syrienfeldzug zu leisten wird Frankreich Kampfflugzeuge aus Afrika abziehen müssen, welche dort sein mehr als 5000 Mann starkes Militärpersonal unterstützen. Deutschlands Luftwaffe, sagte man mir, wird dazu beitragen, die Lücke zu füllen, so dass die französischen Flugzeuge in der Levante eingesetzt werden können. Obwohl Deutschland nicht offiziell am Syrienfeldzug teilnimmt, wird Berlin eng mit Russland und Frankreich zusammenarbeiten, obwohl seine eigene Luftwaffe in notorisch schlechtem Zustand ist.

Russlands Bereitschaft und Fähigkeit, Gewalt anzuwenden, gibt Putin eine beträchtliche diplomatische Flexibilität. Der australische Premierminister Malcolm Turnbull schlug heute vor, dass Russland den syrischen Präsidenten Bashar al-Assad fallen lassen und einer Übereinkunft über eine Machtteilung entlang ethnischer und konfessioneller Linien gemäß dem libanesischen Modell zustimmen könnte. Als der Anführer einer militärischen Koalition zum Zurückdrängen von ISIS kann Putin es sich leisten, Assad fallen zu lassen, wenn der Westen zustimmt, ihm den Militärstützpunkt in Tartus zu überlassen. Im weiteren diplomatischen Kontext würde Putin eine stillschweigende Aufhebung der Sanktionen gegen Russland als Teil der gesamten Abmachung erwarten.

Eine ganz andere Art von Nahem Osten könnte entstehen. Russland und China haben sich in der Vergangenheit mit dem Iran gegen die Sunniten verbündet, vor allem weil ihre eigene widerspenstige muslimische Bevölkerung vollständig aus Sunniten besteht. Wenn es der russisch geführten Koalition gelingt, ISIS zu demütigen, werden die beiden asiatischen Mächte wenig Nutzen für ihren aufsässigen schiitischen Verbündeten haben. Obwohl Russland und der Iran gegen ISIS verbündet sind, haben sie ganz unterschiedliche Ziele. So urteilt Saheb Sadeghi, der Herausgeber der iranischen Zeitschrift für Außenpolitik „Diplomat“. In Al-Monitor erklärt Sadeghi:

„Russland hat bisher die Wiederherstellung des syrischen Militärs angestrebt, um seinen Einfluss im Land zu stärken, in dem Glauben, dass der einzige Weg, die Zukunft von Syrien zu gestalten, darin besteht, das syrische Militär wieder in den Stand vor Ausbruch des Bürgerkriegs 2011 zu versetzten, mit anderen Worten, es will eine säkulare Armee, die leicht kontrolliert werden kann.

Dagegen hat der Iran einen ganz anderen Plan verfolgt. Als der Iran die syrische Armee kurz vor dem Kollaps sah, versuchte er, irreguläre Verbände aus Freiwilligen zu bilden. Die islamische Republik baute so eine massive Streitmacht aus Alewiten auf. Diese sind nun die Hauptmacht, sie bekämpfen die verschiedenen bewaffneten Oppositionsgruppen und sie sind auf dem Schlachtfeld stärker als die syrische Armee. Die Freiwilligenverbände, die etwa 20000 Mann zählen, erhalten ihre Befehle eher vom Iran als von der syrischen Regierung.

Einigen Berichten zufolge sind ihnen etwa 20000 Schiiten aus dem Irak, dem Libanon und Afghanistan beigetreten. Diese Streitkräfte können sehr wohl eine entscheidende Rolle für die Zukunft von Syrien spielen. Außerdem hofft die islamische Republik, sie als brauchbare Alternative zur Assad-Regierung zu nutzen“.

Die vom Iran unterstützten Irregulären haben sich als höchst ineffektiv erwiesen, um Territorium von ISIS zurückzugewinnen, insbesondere im Vergleich mit den Kurden, der bei weitem effektivsten Landstreitmacht. Russland und seine Verbündeten werden dieses Problem wahrscheinlich dadurch lösen, dass sie Bodentruppen entsenden. ISIS kann einer Kombination von modernen Bodentruppen mit taktischer Luftunterstützung nicht widerstehen. Das wird den iranischen Beitrag zu den militärischen Anstrengungen abwerten und auch seine Fähigkeit, eine künftige politische Lösung zu beeinflussen. Russland will den Krieg am Boden gewinnen und die Friedensbedingungen kontrollieren, ohne von den apokalyptischen Abenteurern im Iran gestört zu werden.

Es ist bemerkenswert, dass die russische Regierung und ihre Medien Stillschweigen über einen israelischen Luftschlag in der letzten Woche bewahrten, der sich gegen ein Waffendepot der Hisbollah auf dem Flughafen von Damaskus richtete. Wie gewöhnlich hat das israelische Verteidigungsministerium die Berichte in den syrischen Medien weder bestätigt noch bestritten, aber die israelischen Presseberichte wissen von einer inoffiziellen Bestätigung. Mir sagten israelische Quellen, dass der Angriff in der Tat stattfand, und zwar unter der Nase der russischen Luftwaffe. Der russische Dienst des BBC bemerkt, dass frühere israelische Luftangriffe eine offizielle Verurteilung aus Moskau nach sich zogen. Wenn dem so ist, wird Moskau der Hisbollah klargemacht haben, dass sie den Kampf mit Israel vermeiden und sich auf das Abschlachten von Sunniten in Syrien beschränken soll.

Es hat Berichte von alternativen Medien gegeben, dass China sich in den syrischen Konflikt hat verwickeln lassen, was der unglückselige amerikanische Präsidentschaftsanwärter Ben Carson wiederholt hat. Das ist mit Sicherheit falsch, nicht nur, weil es China an den geheimdienstlichen und diplomatischen Ressourcen mangelt, um sich in Syrien einzumischen, sondern auch, weil seine Luftwaffe derzeit nicht ein einziges Erdkampfflugzeug wie die amerikanische A-10 oder die russische SU-24 besitzt. Die Volksbefreiungsarmee ist für Auslandseinsätze nicht ausgerüstet, und China hat weder die Absicht noch die Fähigkeit zu intervenieren. Peking ist es zufrieden, sich im Hintergrund zu halten und stillschweigend Russlands Rolle in dieser Region zu unterstützen.

Peking hat jedoch enormen wirtschaftlichen Einfluss im Iran, und könnte ihn nutzen, um Teheran davon abzuhalten, in dieser Region Unruhe zu stiften. Vor zwei Jahren spekulierte ich, dass China eine „Pax Sinicia“ im Nahen Osten stiften könnte. Die früheren nationalen Sicherheitsberater Reagans, Bud McFarlane und Ilan Berman argumentieren im Wall Street Journal vom 18. November, „Peking zu drängen, seinen außerordentlichen Einfluss auf Teheran auszuüben, um es auf einen moderateren Kurs zu zwingen, kann und sollte für Amerika höchste Priorität haben.“

China hat Grund, sich um seine Bevölkerung sunnitischer Muslime zu sorgen, insbesondere um die 15 Millionen Uighuren in seiner am weitesten westlich gelegenen Provinz Xinjiang. Hunderte uighurischer Separatisten kämpfen für ISIS in Syrien, und die Chinesen beschuldigen die Türkei, sie mit Pässen zu versorgen und ihnen sicheres Geleit für die Reise von China in die Türkei durch Südostasien zu gewähren. Ein chinesischer Funktionär sagte mir, dass die türkischen Botschaften in Südostasien 100.000 Blankopässe für Uighuren gelagert haben. Wohlhabende Saudis finanzieren wahhabitische Medressen (theologische Schulen) in China und ein großer Teil der muslimischen Bevölkerung Chinas ist radikalisiert worden.

Aus all diesen Gründen hat China ein großes Interesse an einer Niederlage von ISIS. Es hat eben so viel Grund, die Metastasen des sunnitischen Dschihad zu fürchten wie Russland, ebenso wie die stille Unterstützung für die Dschihadisten aus Istanbul und bestimmten Kreisen aus Saudi-Arabien. Eine Demütigung des sich selbst stilisierten islamischen Kalifats würde die Moral seiner Anhänger in China ebenso wie in Russland erschüttern, und Peking wird Wege finden, Putins Anstrengungen ohne direkten oder sichtbaren Einsatz von militärischen Ressourcen zu unterstützen.

Zu Frankreich: Vor einigen Tagen schrieb ich, dass Frankreich als Antwort auf die Pariser Massaker nichts tun wird. Vielleicht hatte ich Unrecht. Russland wird einiges tun, und daher wird Frankreich mehr tun, als die üblichen Verdächtigen zu verhaften.

Autor: Stefan O. W. Weiss

Leon de Winter zählte die Kolumnen von David P. Goldman, besser bekannt unter seinem nom de plume „Spengler“, „zu den allerinteressantesten, die es weltweit zu lesen gibt“. Seine Texte, die er meist in „Asia Times“ und „PJMedia“ veröffentlicht, haben eine Leserschaft gefunden, die in die Hunderttausende geht. Er behandelt so verschiedene Themen wie Philosophie, Literatur, Wirtschaftswissenschaften, Theologie, Strategie, Weltpolitik, Musik und andere mehr mit gleicher Souveränität und Kompetenz. In Deutschland ist er ein Geheimtipp geblieben, bedauerlicherweise, da er ein vorzüglicher Kenner der deutschen Geistesgeschichte ist. Seine Essays über Wagner, Goethe, Schiller seien doch wenigstens en passant erwähnt. Um dem deutschen Leser die Lektüre zu erleichtern, beabsichtige ich, in diesem Blog seine Texte fortlaufend in Deutsche zu übersetzen. Ich habe dieses Projekt seit einigen Monaten verfolgt, der erste hier auf Deutsch veröffentliche Text stammt vom Oktober 2015. In den kommenden Wochen gedenke ich, seine nachfolgenden Texte in chronologischer Reihenfolge zu veröffentlichen, bis der Anschluss zu Gegenwart erreicht ist.

Hinterlasse einen Kommentar