Spengler auf Deutsch 22: Prosperität im Iran nach dem Nuklearabkommen – eine Fata Morgana

Das Original erschien am 27. Januar 2016 unter dem Titel „Fleeting Chimera: No prosperity for Iran after nuclear deal“ in Asia Times.

Mathematisch ist der Iran beim aktuellen Ölpreis pleite. Nach dem P5+1-Nuklearabkommen wird der Iran zwischen 55 und 150 Milliarden Dollar an eingefrorenen Guthaben zurückerhalten, je nachdem, ob man dem amerikanischen Finanzminister oder seinen eigenen Augen glaubt. Dieses Himmelsgeschenk ist kaum ausreichend, um dem Iran über die nächsten zwei Jahre hinweg zu helfen.

Die Nukleardiplomatie der P5+1-Staaten ging von der Prämisse aus, dass der Iran seine strategischen Ambitionen in der Region für ökonomische Prosperität aufgeben werde. Das Problem ist, dass Prosperität keine realistische Aussicht für den Iran ist; er hat nichts zu gewinnen, wenn er seine strategischen Abenteuer aufgibt.

Der Iran exportiert heute 1,2 Millionen Barrel Erdöl pro Tag. Bei 30 Dollar pro Barrel sind das 14 Milliarden Dollar im Jahr (vielleicht etwas mehr, da einige leichte Ölsorten des Iran höhere Preise erzielen). Der Iran verkauft auch (nach den Zahlen von 2014) ca. 9,6 Milliarden Kubikmeter Erdgas, was nach den heutigen Marktpreisen jährlich weitere 4 Milliarden Dollar einbringt.

Westlichen Schätzungen zufolge gab die iranische Regierung 2014 63 Milliarden Dollar aus. Für 2015 sind keine Daten verfügbar, und die iranische Zentralbank veröffentlicht keine Daten, die neuer als Mitte 2013 sind. Die Einkünfte betrugen etwas über 40 Milliarden Dollar pro Jahr (nicht gerechnet die Gasexporte). Der Iran hat ein 40-Milliarden-Loch zu füllen. Freigegebene Guthaben werden die Land über einige Jahre hinweghelfen, aber nicht seine Probleme lösen. Dieses Jahr plant der Iran 89 Milliarden auszugeben, wie die Regierung am 22 Dezember (2015) verkündete.

Die iranische Regierung plant umfassende Steuererhöhungen, wahrscheinlich um die Abhängigkeit des Regierungsbudgets vom Öl zu verringern. Aber die Steuereinnahmen für das Fiskaljahr, das im März 2016 beginnt, werden nur auf 28 Milliarden Dollar geschätzt. Selbst unter der Annahme, der Iran könne für 22 Milliarden Dollar Öl verkaufen, wird die Lücke im Budget auf etwa 40 Milliarden Dollar ansteigen, auf ca. 10 % des Bruttoinlandsprodukts. In Dollar umgerechnet sank das iranische Bruttoinlandsprodukt von 577 Milliarden Dollar auf 415 Milliarden im Jahre 2014, und wird 2015 nahezu sicher weiter gesunken sein.

Keines der aktuell diskutierten Großprojekte wird an dieser Situation viel ändern. Die lang diskutierte iranisch-pakistanische Pipeline mag unter Idealbedingungen ca. 3,5 Milliarden Dollar jährlich abwerfen, von denen der Iran lediglich einen Teil erhielte.

Im Dezember sagte der Iran, er hoffe die Ölförderung um 500.000 Barrel zu erhöhen, um so 22 Milliarden Dollar im Jahr erzielen zu können, eine Steigerung um 50 % verglichen mit dem aktuellen Stand. Aber am 16. Januar sagte der iranische Ölminister Bijan Zaganeh einem ungläubigen CNN-Interviewer, man werde bis Ende 2016 die Ölförderung auf 1,6 Millionen Barrel pro Tag steigern. Die meisten Experten bezweifeln, dass der Iran so viel Öl fördern kann, und wenn er es tun sollte, könnte er es nicht verkaufen.

Es gibt viele Länder, die mehr Öl verkaufen müssen, insbesondere Russland. Die russischen Ölexporte nach China übertreffen nunmehr die Saudi-Arabiens. China hat gute Gründe, mehr von Russland zu kaufen, bedenkt man die Übereinstimmung russischer und chinesischer strategischer Ziele in Syrien und anderswo. China wünscht offensichtlich, die Beziehungen mit dem Iran zu verbessern. Der Besuch von Präsident Xi Jinping am 23. Januar (2016) bewirkte ein Abkommen, durch welches der Handel um 600 Milliarden Dollar in den nächsten zehn Jahren gesteigert werden soll. Die Frage ist nicht, ob China mit dem Iran Handel treiben will, sondern ob der Iran bezahlen kann. Wie Russland fürchtet China die Expansion des radikalen sunnitischen Islam in dieser Region, der potentiell in Chinas westliche Provinz Xinjiang überschwappen kann. Es gibt keine schiitischen Muslime in Russland oder China, und die iranische Unterstützung für schiitische Dschihadisten interessiert die beiden asiatischen Mächte kaum.

Russland wird Chinas wichtigster Lieferant für Erdöl.

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Es scheint unwahrscheinlich, dass China Öleinkaufe von Russland zum Iran verschiebt, um das Regime in Teheran zu unterstützen. China wird in iranische Ölförderung, Petrochemie und Infrastruktur investieren, aber auch nach den optimistischsten Annahmen wird das den iranischen Finanzen kaum helfen.

Solange der Ölpreis nicht scharf ansteigt, wird Irans Gewinn aus dem P5+1-Abkommen das Defizit für zwei Jahre ausgleichen, ohne viel für die dringend nötige Wartung der existierenden Öl- und Gasanlagen übrigzulassen. Das mag erklären, warum das Regime in Teheran die Wichtigkeit des Nuklearabkommens mit dem Westen heruntergespielt hat. Das Ende der Sanktionen wird wahrscheinlich die durchschnittlichen Lebensbedingungen der Iraner kaum verbessern, und die Regierung wollte keine falschen Erwartungen wecken.

Die iranische Wirtschaft ist in schlechtem Zustand. Die offizielle Arbeitslosenrate liegt bei 11 %, aber nur 37 % der Bevölkerung werden als wirtschaftliche aktiv angesehen, eine extrem niedrige Rate, bedenkt man die Konzentration der iranischen Bevölkerung in den arbeitsfähigen Jahrgängen. Eine soziale Indikatoren sind alarmierend. Die Zahl der Eheschließungen ist seit 2012 um 20% gefallen. „Im Iran ist das übliche Heiratsalter für Männer von 20-34 Jahren und 15-29 für Frauen … 46 % der Männer und 48 % der Frauen in diesem Alter bleiben unverheiratet“, gemäß der nationalen Statistik-Agentur. So genannte „Scheinehen“ oder Zusammenleben ohne Hochzeit sind so verbreitet und kontrovers, dass das Regime im letzten Jahr eine Frauenzeitschrift verbot, weil sie darüber berichtet hatte.

Wirtschaftliche Probleme erklären teilweise das Absinken der Heiratsrate, aber die Korrosion traditioneller Werte ist auch ein Faktor. Iranische Forscher schätzten 2015, dass eine von acht iranischen Frauen von Chlamydien infiziert ist, eine verbreitete Geschlechtskrankheit, die häufig Unfruchtbarkeit zur Folge hat. Gemäß dem „Center for Disease Control“ (Zentrum für Gesundheitsvorsorge) ist nur eine von 170 amerikanischen Frauen von dieser Krankheit befallen. Die Kombination von fallender Hochzeitsrate und epidemisch verbreiteter Geschlechtskrankheit deutet auf eine Gesellschaft, die ihre Kohäsion verliert. Die theokratischen Führer des Iran sind zu zimperlich, nackte Standbilder in Italien anzusehen, aber sie regieren eine Gesellschaft, deren Familienwerte desintegrieren wie nirgendwo sonst in der Welt.

Für ein Regime, das versucht hat, die iranische Fruchtbarkeitsrate von knapp 1,6 Kindern pro Frau zu erhöhen, indem es künftigen Eltern Anreize bot und die Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln beschränkte, ist das besonders enttäuschend. Ganz im Gegenteil scheint sich die demographische Situation weiter zu verschärfen. Die iranische Bevölkerung altert schneller als irgendeine andere in der Welt, und die Ablehnung familiären Lebens durch die junge Generation lässt katastrophale wirtschaftliche Probleme in 20 Jahren erwarten.

Vom finanziellen Standpunkt aus erlebt der Iran eine Art Roter-Königin-Effekt[1]: er braucht mehr ausländisches Geld, um seine Position zu halten, das heißt, um seine vorhandene Ölförder-Infrastruktur instandzuhalten. Das Ende der Sanktionen rettet den Iran vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch durch den Ölpreiskollaps, aber es zieht das Land nicht aus der Flaute.

[1] Begriff aus der Evolutionstheorie, benannte nach der „Roten Königin“ in Lewis Carrols Roman „Alice hinter den Spiegeln“. Die Rote Königin erklärt der neugierigen Alice: „Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst.“

Autor: Stefan O. W. Weiss

Leon de Winter zählte die Kolumnen von David P. Goldman, besser bekannt unter seinem nom de plume „Spengler“, „zu den allerinteressantesten, die es weltweit zu lesen gibt“. Seine Texte, die er meist in „Asia Times“ und „PJMedia“ veröffentlicht, haben eine Leserschaft gefunden, die in die Hunderttausende geht. Er behandelt so verschiedene Themen wie Philosophie, Literatur, Wirtschaftswissenschaften, Theologie, Strategie, Weltpolitik, Musik und andere mehr mit gleicher Souveränität und Kompetenz. In Deutschland ist er ein Geheimtipp geblieben, bedauerlicherweise, da er ein vorzüglicher Kenner der deutschen Geistesgeschichte ist. Seine Essays über Wagner, Goethe, Schiller seien doch wenigstens en passant erwähnt. Um dem deutschen Leser die Lektüre zu erleichtern, beabsichtige ich, in diesem Blog seine Texte fortlaufend in Deutsche zu übersetzen. Ich habe dieses Projekt seit einigen Monaten verfolgt, der erste hier auf Deutsch veröffentliche Text stammt vom Oktober 2015. In den kommenden Wochen gedenke ich, seine nachfolgenden Texte in chronologischer Reihenfolge zu veröffentlichen, bis der Anschluss zu Gegenwart erreicht ist.

4 Kommentare zu „Spengler auf Deutsch 22: Prosperität im Iran nach dem Nuklearabkommen – eine Fata Morgana“

      1. Oha, ich hätte mich präziser ausdrücken sollen: Da war ein Leerzeichen an der falschen Stelle. Jetzt heißt es „das eine“, und das stimmt noch immer nicht. Richtig wäre: „dass eine“.

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