Spengler auf Deutsch 27: Eine syrische Gespenstergeschichte – Lektionen von Kardinal Richelieu

Das Original erschien zuerst unter dem Titel „A Syrian Ghost Story: Lessons from Cardinal Richelieu” am 18. Februar 2016 in PJMedia.

Der Sketch, den ich wiederveröffentliche, erschien zuerst in Asia Times im Februar 2012. In ihm erklärt der Geist von Kardinal Richelieu das Gleichgewicht der Kräfte und das Ungleichgewicht des ethnischen Gemenges der Staaten des Nahen Ostens. Man hat mich über ein Ouijabrett[1] informiert, dass die Analyse und die Empfehlungen des Kardinals sich nicht geändert haben.

„Zur Pont d’Alma“, sagte ich dem Taxifahrer und setzte mich auf den Rücksitz des Citroëns, wobei ich den großen Kupferspucknapf auf dem einen Knie und die Magnumflasche Château Pétrus auf dem anderen balancierte.

“Wünschen Sie jemanden zu treffen, Monsieur?“ fragte der Fahrer. Er musste die Gummistiefel unter meinem Trenchcoat gesehen haben. „Richelieu. Richelieu. Richelieu”. murmelte ich. “Das ist das erste Mal, dass ich jemanden in daktylischen Hexametern nach ihm fragen höre”[2], sagte der Fahrer. Wir hielten vor dem Eingang zu den Pariser Abwasserkanälen an der Pont d’Alma – der „Seelenbrücke“.

Vorsichtig stieg ich zur neunten Ebene unterhalb der Seine herab. Auf Platten des 20. Jahrhunderts folgten Ziegel des 19. und Mauerwerk des 18. So ging es durch den übelriechenden Schmutz der Jahrhunderte, bis ich mich im geheimen Ossarium der Kartäuser-Mönche wiederfand. Die Finsternis war so dick, dass der Strahl meiner kleinen Taschenlampe sich in der Dunkelheit zu verlieren schien. Es konnte nicht kalt sein, aber ich zitterte unkontrollierbar. Aufgehäufte Schädel starrten mich an, als wären sie ein Theaterpublikum.

Ich pflanzte den Spucknapf in den Dreck zu meinen Füßen, zerbrach den Hals der Magnumflasche und goss den duftenden Bordeaux in das Kupfergefäß. Sofort erschienen die Geister: Ein Soldat in blutiger Rüstung, seinen Kopf unter dem Arm, der Can-Can-Chor aus Offenbachs Orpheus, eine Grisette, welche der Tod nicht vom Flirten abhalten konnte, Beamte, Köche und Kleriker.

Ein traurig aussehender Jaurès und ein steifer Clemençeau näherten sich dem Spucknapf, aber François Mitterand winkte sie beiseite. Indem ich den abgebrochenen Flaschenhals schwenkte, trieb ich sie zurück, bis schließlich eine blasse Gestalt erschien, eine menschliche Gestalt mit der Konsistenz einer Qualle. Die anderen wichen ehrfürchtig zurück, als sie vor dem Spucknapf kniete und ihr gelatinöses Haupt hineinsteckte. Es absorbierte den Wein bis seine durchscheinende Oberfläche scharlachrot schien. Sie zog den Kopf aus dem Spucknapf mit einem ectoplasmischen Plop.

“Machen sie es kurz”, sagte Armand Jean du Plessis, Kardinalherzog von Richelieu. Er sah aus wie auf dem Portrait von Philippe de Champaigne, aber hörte sich an wie Maurice Chevalier.

„Wir sind etwas verwirrt wegen Syrien“, begann ich. „Syriens Herrscher, Bashar al-Assad, schlachtet seine eigenen Leute ab, um einen Aufstand zu unterdrücken. Und er ist mit dem Iran verbündet, der Nuklearwaffen erwerben und die Region dominieren will. Wenn wir Assad stürzen, werden sunnitische Radikale ihn ersetzen und sich an den syrischen Minoritäten rächen. Und eine radikale sunnitische Regierung in Syrien würde sich mit der sunnitischen Minderheit im benachbarten Irak verbünden und wahrscheinlich einen Bürgerkrieg herbeiführen“.

„Ich verstehe die Frage nicht”, antwortete Richelieu.

„In Syrien und einigen anderen Orten der Region bringt jeder jeden um, und der Konflikt könnte sich ausbreiten. Was sollen wir tun?“

„Was würde Sie das kosten?“

„Nichts“, antwortete ich.

“Dann lasst sie einander so lange wie möglich umbringen. Das dürfte etwa 30 Jahre dauern. Wissen sie“, fuhr der geisterhafte Kardinal fort, „warum wirklich interessante Kriege 30 Jahre dauern? Das ist wahr seit dem Peloponesischen Krieg bis zu meinem eigenen Jahrhundert. Zuerst tötet man die Väter, dann tötet man ihre Söhne. Normalerweise bleiben nicht genug Männer übrig für einen dritten Aufguss“.

„Aber so etwas können wir nicht sagen,“ wandte ich ein.

„Ich habe es auch nicht gesagt“, antwortete Richelieu. „Aber es ist mir gelungen, die Bevölkerung des Deutschen Reichs im Verlauf einer Generation zu halbieren und Frankreich für zwei Jahrhunderte zur dominierenden Landmacht in Europa zu machen.“

„Gibt es denn keinen Weg, diese Länder zu stabilisieren?“ fragte ich.

Der Blick, den Richelieu mit zuwarf, schien mir Verachtung auszudrücken. „Das ist eine simple Frage der Logik. Sie hatten zwei baathistische Staaten, einen im Irak und einen in Syrien. Beide wurden von Minoritäten regiert. Die Assadfamilie kam aus der alevitischen Minorität in Syrien und unterdrückte die Sunniten, während Saddam Hussein aus der sunnitischen Minorität im Irak kam und die Schiiten unterdrückte.

Es ist eine Frage der Berechnung – was Sie heute Spieltheorie nennen würden. Wenn Sie einen Staat aus antagonistischen Elementen zusammensetzen, dann muss der Herrscher aus einer der Minderheiten kommen. Alle Minderheiten werden sich dann sicher fühlen, und die Mehrheit weiß, dass es eine Grenze gibt, wie sehr die Minderheit die Mehrheit unterdrücken kann. Die Regime der Baathpartei im Irak und in Syrien sind nach demselben Prinzip gegründet – das eine ist das Spiegelbild des anderen.“

„Was passiert, wenn die Mehrheit herrscht?“ fragte ich.

„In dem Moment, in dem sie die Herrschaft der Mehrheit in eine Welt voll Stammesgesellschaften einführen“, antwortete der Kardinal, „zerstören Sie das natürliche Gleichgewicht der Unterdrückung. Die Minderheiten haben kein anderes Mittel als zu kämpfen, vielleicht bis zum Tod. Im Fall des Irak lindert das Vorhandensein von Öl das Problem. Die Schiiten haben das Öl, aber die Sunniten wollen einen Teil der Einnahmen, und es ist leichter für die Schiiten, die Einnahmen zu teilen, als die Sunniten zu töten. Auf der anderen Seite wird das Problem verschärft durch die Anwesenheit eines aggressiven Nachbarn, der ebenfalls das Öl will“.

„So ist wegen des Iran ein Bürgerkrieg wahrscheinlicher?“

„Ja”, sagte der Schatten, “und nicht nur im Irak. Ohne Unterstützung durch den Iran können die syrischen Aleviten – kaum ein Achtel der Bevölkerung – nicht hoffen, die Sunniten zu besiegen. Der Iran wird Assad und die Aleviten bis zum Ende unterstützen, denn wenn die Sunniten im Syrien an die Macht kommen, werden sie es dem Iran erschweren, die Sunniten im Irak zu unterdrücken. Wie ich schon sagte, es ist einfach eine Frage der Logik. Wenn sie das nächste Mal kommen, bringen sie eine zweite Flasche Pétrus mit, und mein Freund Decartes wird Ihnen ein Diagramm zeichnen“.

„Um die Region zu stabilisieren, müssten wir also den Iran neutralisieren?“

„Bingeaux!“ antwortete Richelieu.

„Aber es gibt Leute in den Vereinigten Staaten, wie den Vorsitzenden der vereinigten Stabschefs[3], die sagen, dass ein Angriff auf den Iran alles destabilisieren würde!“

“Solche Trottel würde ich nicht eine Woche in meinen Diensten dulden,“ antwortete der Kardinal verächtlich. „Da ist wieder einfache Logik gefragt. Wenn die Fähigkeit des Irans Nuklearwaffen zu bauen, gewaltsam beseitigt wird, an wem will er sich dann rächen? Zweifellos werden seine Irregulären im Libanon einige Raketen auf Israel abfeuern, aber nicht genug, um Israel zur Zerstörung der Hisbollah zu provozieren. Der Iran mag einige Terrorakte begehen, aber mit dem Risiko gewaltsamer Vergeltung. Ohne Nuklearwaffen wird der Iran zu einer absteigenden Macht mit veralteten Waffen und ineffizienter Wehrpflichtigenarmee.“

Richelieus Schatten hatte bereits einige Farbe verloren. „Was sollen die Vereinigten Staaten in Syrien tun?“ fragte ich.

„So wenig wie möglich,“ antwortete er. „Schicken Sie einige Panzerabwehrwaffen und Flugabwehrraketen aus Gaddafis Beständen, genug um die Opposition zu ermutigen und Assad zu hindern, sie zu vernichten, und ohne allzu offensichtlich werden zu lassen, wer sie geschickt hat.“

„Und was wird aus Syrien werden?“

Der Kardinal sagte säuerlich. “Den aktuellen Besatzern Syriens wird dasselbe passieren, was früheren Besatzern geschehen ist: den Assyrern, den Seleukiden und den Byzantinern. Sie scheinen zu glauben, die Syrer sind in einer existentiellen Gefahr, weil sie bis zum Tod kämpfen. Im Gegenteil. Sie kämpfen bis zum Tode, weil sie in einer existentiellen Gefahr waren, bevor der erste Schuss abgefeuert wurde. Sie haben kein Öl. Sie haben nicht einmal Wasser. Sie produzieren nichts. Sie hängen an ihrem alten Hass wie ein ertrinkender Mann, der sich an einem Stein festhält“.

„Gibt es denn nichts, was wir tun können?“ rief ich.

Aber Richelieu hatte sich in eine kardinalförmige Qualle zurückverwandelt, und wenn er eine Antwort gab, so konnte ich sie nicht hören. Als er verblasste, kamen die anderen Geister aus dem Mauerwerk und umringten mich. Unter ihnen erkannte ich den wundertätigen Rabbi aus Chelm, der rief. „Spengler! Was tust du hier, warum beschwörst du die Geister der Toten?“ Ich versuchte zu sagen: “Rabbi, Ich habe hier nichts gegessen!” aber meine Lippen wollten sich nicht bewegen und meine Zunge brannte. Ich erwachte mit einem schrecklichen Kater neben einer leeren Armagnacflasche und einer Nummer des „Weekly Standard“.

[1] Das „Ouija“ oder „Hexenbrett“ wird von Spiritisten genutzt, um mit Geistwesen in Kontakt zu treten.

[2] Der Fahrer kritisiert hier in subtiler Weise Spenglers Aussprache des Französischen. Im Französischen ist „Richelieu“ kein Daktylus, sondern ein Amphibrachys.

[3] Die „Joint Chiefs of Staff“ sind ein Gremium, in dem die einzelnen Befehlshaber der amerikanischen Teilstreitkräfte zusammengefasst sind.

Autor: Stefan O. W. Weiss

Leon de Winter zählte die Kolumnen von David P. Goldman, besser bekannt unter seinem nom de plume „Spengler“, „zu den allerinteressantesten, die es weltweit zu lesen gibt“. Seine Texte, die er meist in „Asia Times“ und „PJMedia“ veröffentlicht, haben eine Leserschaft gefunden, die in die Hunderttausende geht. Er behandelt so verschiedene Themen wie Philosophie, Literatur, Wirtschaftswissenschaften, Theologie, Strategie, Weltpolitik, Musik und andere mehr mit gleicher Souveränität und Kompetenz. In Deutschland ist er ein Geheimtipp geblieben, bedauerlicherweise, da er ein vorzüglicher Kenner der deutschen Geistesgeschichte ist. Seine Essays über Wagner, Goethe, Schiller seien doch wenigstens en passant erwähnt. Um dem deutschen Leser die Lektüre zu erleichtern, beabsichtige ich, in diesem Blog seine Texte fortlaufend in Deutsche zu übersetzen. Ich habe dieses Projekt seit einigen Monaten verfolgt, der erste hier auf Deutsch veröffentliche Text stammt vom Oktober 2015. In den kommenden Wochen gedenke ich, seine nachfolgenden Texte in chronologischer Reihenfolge zu veröffentlichen, bis der Anschluss zu Gegenwart erreicht ist.

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