Spengler auf Deutsch 77: Was ist Poesie und was bewirkt sie?

Das Original erschien am 21. November 2016 unter dem Titel “What Is Poetry, and What Does It Do?” in PJMedia.

 

Die Aufregung über den Zusammenstoß des designierten Vizepräsidenten Mike Pence mit dem Ensemble und den Zuschauern von “Hamilton”[1] provoziert mich, ein anderes Thema zu erörtern. Ich werde mir „Hamilton“ nicht ansehen. Ich mag Rap in keiner Form, auch nicht in der sterilen, kommerzialisierten Version eines populären Musicals. Poesie hebt die Kraft des Geistes auf eine intensivere und höhere Stufe als unser alltägliches Denken, und sie bewirkt das, indem sie uns zwingt, in poetischen Rhythmen auf einer höheren Ebene zu denken. Dagegen bietet Rap einen gleichbleibenden la-la-Rhythmus, der nichts tun, uns zu provozieren, in dieser Weise zu denken.

Ebenso wie in nichtverbaler Musik existiert in der Poesie Regelmäßigkeit (von Metrum, Rhythmus, Stimmführung), um Erwartungen zu kreieren. Ohne Erwartung kann es keine Überraschung geben, und es ist die Überraschung, die unsere höheren Geisteskräfte weckt und den Sinn für Wunder schärft.

Es gibt viele Aspekte der Poesie, aber der eine, der sich am besten zur Analyse eignet, war der Gegenstand des sechsten Buches von Augustinus‘ De Musica, die (meines Wissens nach) erste Abhandlung, welche die Existenz einer Hierarchie von Zahlen behauptet, einschließlich „Zahlen des Intellekts“ an der Spitze. Vor einigen Jahren argumentierte ich in First Things, dass ein roter Faden Augustinus’ Abhandlung über poetische Rhythmen und Metren mit der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts und insbesondere der Entdeckung der Infinitesimalrechnung verbindet.

Augustinus behauptet, dass eine bestimmte Fähigkeit in unserem Geist es möglich macht, Rhythmen auf einer höheren Ebene als der Sinneswahrnehmung oder bloßer Erinnerung zu hören, nämlich durch „Urteil“. Ich denke, was er genau meint ist die Fähigkeit, die uns erlaubt zwei jambische Heptameter am Beginn von Coleridges Ballade zu hören:

It is an ancient Mariner,

(Da ist ein alter Seemann,)

And he stoppeth one of three.

(Und er hielt einen von dreien an.)

“By thy long grey beard and glittering eye,

(„Bei deinem langen grauen Bart und funkelnden Auge,)

Now wherefore stopp’st thou me?”

(warum hältst du mich an“?)

Von dem Text-zu-Stimme-Programm eines Computers gelesen, wird dies nicht so klingen, wie Coleridge es im Sinn hatte. Ein Leser, der mit englischer Poesie vertraut ist, erkennt intuitiv die zwei Silben „And he“ als einen Ersatz für die erwartete erste Silbe im ersten Jambus der zweiten Zeile. Der Leser wird die ersten drei Silben „And he stoppeth“ mit gleicher Betonung aussprechen, etwa wie einen dreisilbigen Spondeus oder eine Hemiole (drei an Stelle von zwei) in der Musik. Unsere „Zahlen des Gedächtnisses“ sagen uns, das Metrum einer Ballade zu erwarten, und die Extrasilben als eine Expansion der einen erwarteten. Außerdem reibt sich der Spondeus im zweiten Heptameter an der erwarteten Vorwärtsbewegung; er bildet so die Verzögerung des Hochzeitsgastes durch den Seemann ab.

Die subtilen (und manchmal nicht so subtilen) rhythmischen Veränderungen in Coleridges Gedicht zwingen uns, über den Inhalt nachzudenken. Es gibt unzählige Beispiele. Man bedenke Keats‘ Sonnet über seine erste Lektüre von Chapmans Homerübersetzung – sie ist zeitgenössisch mit Shakespeare -, die das Metrum der Ballade (für die Ilias) und den jambischen Pentameter (für die Odyssee) gebraucht. Es beginnt:

Much have I travell’d in the realms of gold,

(Ich bin viel gereist in den goldenen Königreichen,)

And many goodly states and kingdoms seen;

(Und habe viele ansehnliche Staaten und Königreiche gesehen;)

Round many western islands have I been

(Viele westliche Inseln habe ich umrundet)

Which bards in fealty to Apollo hold.

(mit Barden treu dem Apoll.)

Oft of one wide expanse had I been told

(Oft wurde mir von einem großen Land erzählt)

That deep-brow’d Homer ruled as his demesne;

(Das der tiefsehende Homer als sein Gut regierte;)

Yet did I never breathe its pure serene

(Aber ich atmete nie seine volle Schönheit)

Till I heard Chapman speak out loud and bold:

(Bis ich Chapman laut und kühn sprechen hörte:)

Dort gibt es zwei verschiedene Metren: eine quasi-daktylische Imitation des homerischen Metrums in der ersten Zeile, die abwechselt mit einem jambischen Pentameter in der zweiten. Selbst wenn dem Leser nicht bewusst ist, dass das Metrum der ungeraden Zeilen Homers eigenes griechisches Metrum hervorruft, so evoziert doch der Kontrast zwischen den beiden den Unterschied zwischen Antike und Moderne, die Welt der heroischen Legende versus moderne Imagination. Keats‘ Leistung hier ist atemberaubend.

Oder bedenken Sie Shakespeares Sonnet 116 („Let me not to the marriage of true minds admit impediments“), das behauptet: „Love is not love which alters when it alternation finds,“ (Lieb’ ist ja nicht Liebe, wenn sie beim Wankelmuth sich kann vermindern[2]) und das intoniert: „Love’s not Time’s fool“ (Liebe ist kein Narr der Zeit). Mit diesen beiden Spondäen kommt der Rhythmus zu einem toten Ende, und die Zeit hört auf zu herrschen: Wir erleben den metrischen Triumph der Liebe.

Natürlich, selbst ein Singsang kann einen mächtigen poetischen Inhalt übermitteln, wenn er ironisch gebraucht wird. Ein schönes Beispiel ist eines von Heinrich Heines letzten Gedichten, das erklärt, dass sein Geist fortfahren wird, sein Publikum zu verfolgen, selbst wenn sein Körper im Grabe ruht. Sein Geist, erklärt er dem Leser, verweile in seinem Herzen wie ein Hauskobold: „Stets weht dich an sein wilder Hauch/Und wo du bist, da ist er auch.“ (auch im Original deutsch). Die Leichtfertigkeit von Metrum und Rhythmus betont den unheimlichen Inhalt.

Es gibt zahllose Beispiele und der Leser wird zweifellos viele andere nennen können. Sicher, in den Schulen wird viel schlechte Poesie gelehrt: Edgar Allan Poe oder Matthew Arnold. Die meisten der heutigen Oberschüler würden Schwierigkeiten mit einem Sonnet von Shakespeare oder Keats haben. Aber das Ziel der Poesie ist nicht ohne Anstrengung zu erreichen. Der große Mathematiker Felix Klein sagte, sein größter Erfolg als Oberschüler war es, einige Verse von Schillers Ballade „Die Kraniche des Ibykus“ in antikes Griechisch zu übersetzen.

Wie solche Kunstgriffe bei uns höhere Geisteskräfte hervorrufen, ist ein Mysterium, aber nicht gänzlich.

Hören Sie das Plappern der Kleinkinder: da ist ein Rhythmus in ihrem Plappern, schon bevor sie Worte sprechen. Lange bevor sie verstehen, was sie sagen, lernen Babys den Rhythmus der Erwachsenensprache und ahmen ihn nach.

Die Sprachphilosophie widmet sich zu sehr der “Bedeutung” und zu wenig dem Zweck: Wir kümmern uns weniger um die perfekte logische Klarheit unserer Sprache als darum, wohin sie geht, wohin sie uns bringt, und ob sie das, was wir denken und fühlen, denen übermittelt, zu denen wir sprechen. Das deutsche Wort „Sinn“ (verwandt mit „sense“ = Sinn für etwas) wird im Wörterbuch mit „meaning“ übersetzt, aber übermittelt die Bedeutung von Vorhaben und Willen, nicht einfach von „Bedeutung“ in einem eher kontemplativen Sinne. Der Titel von Viktor Frankls berühmtem Buch (Der Mensch auf der Suche nach Sinn) wäre besser übersetzt mit „Man’s search for purpose.“ (Der Mensch auf der Suche nach einem Ziel).

Poesie treibt einen Gedanken zu einem Ergebnis, indem sie Rhythmus und Reim gebraucht, um uns zu zeigen, wohin eine Idee geführt wird und wann sie ihren Abschluss erreicht. Große Dichtung veranlasst uns, über das, was wir gehört haben, wieder und wieder nachzudenken, und nicht nur mit unserem Ohr, sondern auch mit dem Ohr unseres Geistes zu hören. Große Dichtung öffnet unseren Geist, Werbe-Jingles, Grußkartenverse und Rap leisten das nicht.

Zweifellos wird mich jemand der Feindseligkeit gegenüber Afro-Amerikanern beschuldigen, da ich Rap kritisiere. Rap ist jedoch nur ein sehr kleiner Teil des afro-amerikanischen Beitrags zur populären Kultur. Die einzige erwähnenswerte populäre Musik, die Amerika hervorgebracht hat, kam von schwarzen Musikern. Das schwarze „Spiritual“ ist die erste wirklich amerikanische Kunstform. Die musikalische Tradition der schwarzen Kirche hat viele der besten Künstler in diesem Feld hervorgebracht – von Aretha Franklin bis zu Kathleen Battle, ohne Zweifel die beste Koloratursängerin ihrer Generation – weit besser als (beispielsweise) Joan Sutherland.

Das ist der Grund, warum ich mir “Hamilton” nicht ansehen werde. Ich habe keine Zeit für Rap. Wenn Moses vom Berge Sinai herabstiege und den Pentateuch rappen würde, würde ich den Targum lesen[3].

[1] Mike Pence, der von Trump designierte neue Vizepräsident der USA, hatte an einer Aufführung des beliebten Musicals „Hamilton“ teilgenommen. Die Macher der Show wussten davon – und hatten extra für Pence ein Grußwort, mit einer scharfen Kritik an Pence und Trump vorbereitet, das am Ende der Vorstellung von einem der Darsteller im Namen des gesamten Ensembles verlesen wurde.

[2] Übersetzung von Dorothea Tieck.

[3] Ein Targum ist eine antike Übersetzung von hebräischen oder altgriechischen Bibel-Handschriften ins Aramäische (aus Wiki).

Autor: Stefan O. W. Weiss

Leon de Winter zählte die Kolumnen von David P. Goldman, besser bekannt unter seinem nom de plume „Spengler“, „zu den allerinteressantesten, die es weltweit zu lesen gibt“. Seine Texte, die er meist in „Asia Times“ und „PJMedia“ veröffentlicht, haben eine Leserschaft gefunden, die in die Hunderttausende geht. Er behandelt so verschiedene Themen wie Philosophie, Literatur, Wirtschaftswissenschaften, Theologie, Strategie, Weltpolitik, Musik und andere mehr mit gleicher Souveränität und Kompetenz. In Deutschland ist er ein Geheimtipp geblieben, bedauerlicherweise, da er ein vorzüglicher Kenner der deutschen Geistesgeschichte ist. Seine Essays über Wagner, Goethe, Schiller seien doch wenigstens en passant erwähnt. Um dem deutschen Leser die Lektüre zu erleichtern, beabsichtige ich, in diesem Blog seine Texte fortlaufend in Deutsche zu übersetzen. Ich habe dieses Projekt seit einigen Monaten verfolgt, der erste hier auf Deutsch veröffentliche Text stammt vom Oktober 2015. In den kommenden Wochen gedenke ich, seine nachfolgenden Texte in chronologischer Reihenfolge zu veröffentlichen, bis der Anschluss zu Gegenwart erreicht ist.

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