Spengler auf Deutsch 18: Strategisch schmort Saudi-Arabien in der Hölle

Der Originalartikel erschien am 3. Januar 2016 unter dem Titel „Saudi Arabia stews in policy hell“ in Asia Times.

Die Massenhinrichtung letzte Woche in Saudi-Arabien deutet auf Panik der höchsten Ebene in der Monarchie. Für diese Aktion gibt es keinen Präzedenzfall, selbst nach den grimmigen Standards saudischer Repression. 1980 tötete Riad 63 Dschihadisten, welche die große Moschee in Mekka angegriffen hatten, aber das war unmittelbar nach dem Ereignis. Die meisten der 47 Häftlinge, die am 2. Januar (2015) erschossen oder geköpft worden sind, saßen seit rund einem Jahrzehnt in saudischen Gefängnissen. Die Entscheidung, den prominenten schiitischen Kleriker Nimr al-Nimr zu töten, den prominentesten Fürsprecher für die unruhigen schiitischen Muslime in der saudischen Ostprovinz, verrät Angst vor Subversion, die vom Iran gesponsert wird.

Warum hat man sie jetzt getötet? Es ist schwierig, das Ausmaß interner Bedrohungen für die saudische Monarchie abzuschätzen, aber der generelle Kontext für ihre Besorgnis ist klar: Saudi-Arabien sieht sich selbst isoliert, vernachlässigt von seinem langjährigen amerikanischen Alliierten, zerstritten mit China und unter Druck durch Russlands plötzliche Vorherrschaft in der Region. Die von den Saudis unterstützte „Armee der Eroberung“ (Dschaisch al-Fatah) in Syrien scheint unter den russischen Angriffen zusammenzubrechen. Die saudische Intervention im Jemen gegen die vom Iran unterstützten Huthi-Rebellen blieb erfolglos. Und sein türkischer Hilfs-Alliierter wird von einem schwelenden Bürgerkrieg beansprucht. Nichts klappt mehr für die Saudis.

Das Schlimmste ist, dass der Kollaps der saudischen Öleinnahmen die rund 700 Milliarden Dollar schweren Finanzreserven des Königreichs in den kommenden fünf Jahren zu erschöpfen droht. Das prophezeit eine Schätzung des Internationalen Währungsfonds, die ich hier diskutiere. Das saudische Königshaus stützt sich auf Subventionen, um die Loyalität der großen Masse seiner Untertanen zu erkaufen, und seine verminderte Finanzkraft ist die größte Bedrohung für seine Herrschaft. Letzte Woche kürzte Riad die Subventionen für Wasser, Elektrizität und Benzin. Der zeitliche Zusammenhang mit den Exekutionen könnte mehr als ein Zufall sein: Die Fähigkeit der königlichen Familie, sich Beliebtheit zu erkaufen, erodiert ebenso, wie ihre regionale Sicherheitspolitik zerfällt.

Jahrzehntelang hat Riad sich dem Westen als Alliierter und stabilisierende Kraft präsentiert, während es wahhabitische Fundamentalisten überall in der Welt finanziell unterstützte. China war der größte Kunde des Königreichs ebenso wie Nachschubquelle für hochentwickelte Waffensysteme. Aber China hat wegen der Unterstützung der Monarchie für wahhabitische Islamisten in China und den angrenzenden Ländern die Geduld verloren.

Einem führenden chinesischen Analysten zufolge, sind die Saudis die Hauptquelle für die Finanzierung islamistischer Medressen (theologischer Schulen) in Westchina, wo die „Ostturkistanische Unabhängigkeitsbewegung“ (East Turkistan Independence Movement) mehrere großangelegte Terrorakte verübt hat. Obwohl die saudische Regierung Peking versichert hat, dass er diese einheimischen Terroristen nicht unterstützt, ist sie entweder unfähig oder unwillig, einige Mitglieder der königlichen Familie daran zu hindern, lokale Dschihadisten durch versteckte Finanzkanäle zu unterstützen. „Unsere größte Sorge im Nahen Osten ist nicht das Öl; es ist Saudi-Arabien“, sagte der Analyst.

Die chinesischen Muslime – vor allem Uiguren in Westchina, die einen türkischen Dialekt sprechen – sind eher Sunniten als Schiiten. Wie Russland braucht China sich über iranische Propaganda unter schiitischen Dschihadisten keine Sorgen machen, und tendiert dazu, den Iran sunnitischen Mächten vorzuziehen. Formal wünscht Peking in seinen Geschäften mit dem Iran und Saudi-Arabien neutral zu erscheinen, beispielsweise in den kürzlich erfolgten Kontakten der jeweiligen Marinen. Chinesische Analysten betonen, dass Peking an beide Seiten Waffen verkauft hat – quantitativ mehr an den Iran, aber höherentwickelte Waffen an die Saudis.

Relevanter als offizielle Verlautbarungen ist jedoch, wo China sein Öl kauft:

Die Daten des chinesischen Ölimports zeigen eine signifikante Entwicklung weg von Saudi-Arabien zu Russland und Oman (den China als Teil der iranischen Einflusssphäre betrachtet). Die russischen Ölexporte nach China haben sich seit 2010 vervierfacht, während saudische Exporte stagnierten. Wegen der aktuellen Ölschwemme kann China seine Lieferanten nach Belieben wählen, und man kann den Schluss kaum vermeiden, dass Peking aus strategischen Gründen mehr von Russland kauft. Russischen Quellen zufolge hat China auch russischen Ölfördergesellschaften erlaubt, die vertraglich zugesagte Lieferung von Öl zu verzögern. Das erlaubt Russland, das Öl auf dem freien Markt für Devisen zu verkaufen – das Äquivalent für eine chinesische Anleihe an Russland.

Russland wird Chinas wichtigster Öllieferant:

Die chinesischen Interessen in Syrien stimmten mit den russischen überein. Beide haben Grund, das Wachstum von ISIS als Magnet für ihre eigenen Dschihadisten zu fürchten. Tausende chinesischer Uiguren sind durch die poröse Südgrenze der Yunnan-Provinz nach Südostasien gelangt; das geschah mit finanzieller Hilfe saudischer Sympathisanten und logistischer Unterstützung – Pässe eingeschlossen – der lokalen türkischen Konsulate. Chinesische Uiguren waren an dem Bombenanschlag auf den Erawan-Tempel in Bangkok im letzten August beteiligt, und haben sich mit ISIS-Sympathisanten bis in den Süden von Indonesien vernetzt. Die Türkei hat im letzten Monat berichtet, dass die meisten Dschihadisten, welche ihre Grenze nach Syrien überschreiten, um sich ISIS anzuschließen, chinesische Muslime sind.

Wenn die Kurden und ihre Verbündeten mit russischer Luftunterstützung die Kontrolle über Syriens Grenze mit der Türkei erlangen, könnten die chinesischen Uiguren ihren Zugang nach Syrien verlieren. Ende Dezember setzten kurdische Kräfte auf das Westufer des Euphrat über. Sie sind jetzt in der Position, sich mit kurdischen Milizen im nordwestlichen Syrien zu verbinden, und so die türkische Hoffnung auf eine türkisch kontrollierte Sicherheitszone an der Südseite der syrischen Grenze zunichte zu machen. Die Türkei ihrerseits riskiert paralysiert zu werden, durch den schwelenden Bürgerkrieg mit ihrer kurdischen Bevölkerung. Die kurdische Majorität im Südosten des Landes lebt im Belagerungszustand und die Kämpfe haben sich auf die westlichen Provinzen der Türkei ausgeweitet.

So hat alles auch seine gute Seite und China scheint die Hoffnung zu haben, dass es sein Dschihadistenproblem eingedämmt hat. Am Neujahrstag erklärte der Vorsitzende der Kommunistischen Partei in Chinas Provinz Xinjiang „die Atmosphäre religiösen Extremismus‘ ist merklich zurückgegangen”.

China ist höchst zurückhaltend, was den Einsatz militärischer Kräfte in überseeischen Konflikten betrifft, und sein Militär ist schlecht auf solche vorbereitet, selbst wenn Peking seine Meinung ändern sollte. Der Volksbefreiungsarmee fehlten Erdkampfflugzeuge wie die beiden Staffeln russischer Su-24 und Su-25, die in Syrien eingesetzt werden. Nichtsdestoweniger ist Peking erfreut, dass Russland die Streitkräfte des ISIS in Syrien schwächt ebenso wie die von Saudi-Arabien und der Türkei unterstützten sunnitischen Islamisten in der „Armee der Eroberung“ (Dschaisch al-Fatah).

Es ist schwierig, den Erfolg der russischen Bombardements in Syrien einzuschätzen, solange der Staub sich nicht gelegt hat, aber es eine Menge Staub in der Luft. Israelischen Quellen zufolge setzt Russland mit verheerender Wirkung große Mengen ungelenkter Bomben aus seinem Kalten-Kriegs-Beständen ein. Die russischen Angriffe ersetzen durch Masse, was sie an Zielgenauigkeit vermissen lassen, sie töten weit mehr Zivilisten als westliche Militärs tolerieren würden, aber sie erzielen Wirkung. Das erklärt die neue Popularität des russischen Präsidenten Wladimir Putin unter westlichen Staatschefs. Er macht für sie die Drecksarbeit.

Saudi-Arabiens Verbündete in Syrien sind in Schwierigkeiten. Anfang 2015 hatte die Armee der Eroberung (Dschaisch al-Fatah), eine Koalition aus al-Kaida und anderen sunnitischen Islamisten unterstützt durch die Saudis, Türken und Katar, die syrische Armee aus einigen Schlüsselstellungen in Nordwestsyrien vertrieben. Sie bedrohte so alevitisches Herzland, den Kern von Assads Regime. Jedoch, im November begann die Koalition zu zerbrechen, und kürzlich nahm die syrische Armee einige Dörfer wieder ein, die sie an die Armee der Eroberung verloren hatte. Eine der wichtigsten Milizen der Armee der Eroberung, Failaq al-Sham, kündigte am 3. Januar an, dass sie die Koalition verlasse, um Aleppo gegen russisch von Russland verstärkte Regierungstruppen zu verteidigen.

Plötzlich scheint für Riad alles schiefzugehen. Der einzige Trost der Monarchie ist unter diesen Umständen, dass ihre Nemesis, der Iran, ebenfalls an dem Kollaps der Öleinnahmen und dem Abnutzungskrieg leidet. Der Iran hat im Dezember begonnen, seine Revolutionäre Garde wegen hoher Verluste aus Syrien zurückzuziehen. Die hohen Kosten für die Aufrechterhaltung der Kriegsanstrengungen, während die iranischen Finanzen implodieren, mögen ebenfalls ein Faktor gewesen sein. Die Hisbollah, Irans schiitischer Ableger im Libanon, hat extrem hohe Verluste erlitten; die gesamte erste Staffel der Kampftruppen ist so gut wie neutralisiert. Und Russland hat kein Interesse gezeigt, sich in die israelischen Luftangriffe auf die Hisbollah einzumischen.

Der Kollaps des Ölpreises verwandelt den Wettkampf zwischen Saudi-Arabien und dem Iran in eine Abwärtsspirale. Aber die panikartige Reaktion der Monarchie auf die vielen Rückschläge in den letzten Monaten stellt eine schwierige Frage: In der Vergangenheit hat der Westen getan, was er konnte, um die saudische Königsfamilie als Pfeiler der Stabilität in der Region zu stützen, trotz der saudischen Unterstützung für dschihadistischen Terrorismus. Bald mag der Westen nicht mehr in der Lage sein, das saudische Königshaus an der Macht zu halten, ob er nun will oder nicht.

Autor: Stefan O. W. Weiss

Leon de Winter zählte die Kolumnen von David P. Goldman, besser bekannt unter seinem nom de plume „Spengler“, „zu den allerinteressantesten, die es weltweit zu lesen gibt“. Seine Texte, die er meist in „Asia Times“ und „PJMedia“ veröffentlicht, haben eine Leserschaft gefunden, die in die Hunderttausende geht. Er behandelt so verschiedene Themen wie Philosophie, Literatur, Wirtschaftswissenschaften, Theologie, Strategie, Weltpolitik, Musik und andere mehr mit gleicher Souveränität und Kompetenz. In Deutschland ist er ein Geheimtipp geblieben, bedauerlicherweise, da er ein vorzüglicher Kenner der deutschen Geistesgeschichte ist. Seine Essays über Wagner, Goethe, Schiller seien doch wenigstens en passant erwähnt. Um dem deutschen Leser die Lektüre zu erleichtern, beabsichtige ich, in diesem Blog seine Texte fortlaufend in Deutsche zu übersetzen. Ich habe dieses Projekt seit einigen Monaten verfolgt, der erste hier auf Deutsch veröffentliche Text stammt vom Oktober 2015. In den kommenden Wochen gedenke ich, seine nachfolgenden Texte in chronologischer Reihenfolge zu veröffentlichen, bis der Anschluss zu Gegenwart erreicht ist.

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