Spengler auf Deutsch 26: Von einem, der nach China auszog und das Fürchten verlernte

Das Original erschien am 22. Februar 2016 unter dem Titel „Chicken Little does China“ in Asia Times.

Ich erhalten viele “gesponserte” Emails von den Likes bei Breitbart.com; sie warnen vor bevorstehendem finanziellen Ruin und drängen Sparer, fragwürdige Finanzberater zu kontaktieren. Amerikaner schicken so etwas zusammen mit nigerianischen Phishingmails direkt in den Spamordner, weil sie mit ihren eigenen Augen sehen können, dass die Geschäfte nicht vernagelt sind und die Banken die Hypotheken nicht kündigen. Berichte über die sogenannte chinesische Schuldenblase sind von gleicher Qualität wie die Breitbart-Mails. Da Amerikaner wenig über China wissen, können sie die Fakten nicht von den Märchen unterscheiden.

Leser von Asia Times werden sich erinnern, dass ich in dieser Publikation, beginnend im Oktober 2007, vor dem bevorstehenden Krach von 2008 gewarnt habe. Am 18. Juli 2007 ging ich in Larry Kudlows CNBC-Show, um davor zu warnen, dass eine Billionen-Dollar Blase für AAA-Papiere das Bankensystem bedrohte. Ich habe über den “Großen Krach von 2008” Anfang Juli 2008 geschrieben, zwei Monate bevor Lehman Brothers untergingen. Ich habe finanzielle Zusammenbrüche vorhergesagt und überlebt. Aber nichts dergleichen wird in China passieren.

In China gibt es zwei Ökonomien: die alte Exportmaschine, die während der 1980er und 90er entstand, und eine technikgetriebene, konsumorientierte neue Ökonomie, in der elektronischer Handel eine Zuwachsrate von 40 % pro Jahr aufweist. China sieht einem ungemütlichen Übergang von dem ersten Modell, das seinen Höhepunkt vor einigen Jahren erreichte, zu einem von Technik und Konsum getriebenen neuen Modell entgegen. Der zurückgehende Welthandel macht Chinas Übergang etwas ungemütlicher. Das ist lästig, aber keine Krise.

Der Hedgefonds-Manager Kyle Bass machte zu Beginn dieses Monats Schlagzeilen, als er behauptete, dass Chinas finanzielle Krise vier Mal so schlimm sei wie die Subprimekrise 2008 in den USA, als amerikanische Hausbesitzer Kredite für 0 % bis 5 % nachgeworfen bekamen. Die Angst vor einer Finanzkrise hat die chinesischen Bankaktien in Mitleidenschaft gezogen, die jetzt zu einem unerreicht niedrigen Preis/Rendite Verhältnis gehandelt werden.

Preis/Renditeverhältnis chinesischer Bankaktien auf Rekordtief:

Chinese Banks' P/E in Hong Kong at All-Time Low

Die Fakten sprechen eine andere Sprache. In China betrug der Minimalanteil an Eigenkapital für das erste Haus 30 % bis zum September 2015, als er auf 25 % gesenkt wurde. Der Minimalanteil für das zweite Haus beträgt 40 % (und betrug 60 % bis zum März 2015). Generell betrug die Beleihungsquote für amerikanische Hypotheken 71% im August 2008, gegen 33% in China, gemäß einer Studie vom Juni 2014 des in Hong Kong ansässigen Maklerbüros “Reorient Group”. Noch wichtiger ist, dass jede Hypothek in China einen großen Eigenkapital-Puffer hat.

Das trifft für die gesamte chinesische Wirtschaft zu. Chinesische Hausbesitzer haben viel mehr Eigenkapital als ihre amerikanischen Gegenstücke; Chinesische Firmen halten viel mehr Bargeld vor als ihre amerikanischen Gegenstücke; und die chinesische Regierung leiht dem Rest der Welt Billionen Dollar, während die amerikanische Regierung vom Rest der Welt Billionen Dollar ausleiht. China hat die höchste Sparquote der Welt – nahezu 50 % des persönlichen Einkommens gegen einen Weltdurchschnittswert von 22 %.

Sparquote des Bruttoinlandsprodukts 2013:

Source: World Bank

Source: World Bank

Haushalte, Firmen und Regierungen legen einen großen Teil ihrer Einkünfte in das Equivalent eines Notgroschen zurück. Bevor die schwätzende Klasse Chinas sogenannte „Schuldenblase“ entdeckte, beklagte sie sich, dass China zu viel sparte, und daher zu wenig vom Rest der Welt einkaufte – mit anderen Worten, dass China mehr Schulden brauchte. Man kann es nun einmal nicht jedem recht machen.

Die absolute Höhe von Schulden ist nie das Problem – vielmehr die Wahrscheinlichkeit der Insolvenz. Man kann selbst in einem 15 Zentimeter tiefen Fluss ertrinken. Wenn Banken Geld verleihen, geben sie normalerweise 1 Dollar von ihrem Eigenkapital für je 10 bis 12 Dollar ihrer Einleger. Eine Verlustrate von 10 % würde ihre Anteilseigner auslöschen, was bedeutet, die Bank ist pleite. Und es zählt nicht, dass die anderen 90 % ihrer Kredite todsicher sind.

Banken können Verlustraten von 10 % und höher verkraften und tun das auch. Notleidende Kredite bei italienischen Banken standen Ende 2014 bei 17 % der Gesamtkreditsumme. Die Verlustrate wird geringer sein; einige Schuldner werden wieder liquide werden, und Geldgeber werden einige ihrer Verluste durch das Veräußern von Aktiva ausgleichen. Aber es gibt Grund zu der Annahme, dass Italien eine Finanzkrise bevorsteht. Bei einer Arbeitslosenquote von 12 % ist das keine Überraschung.

Man weiß, dass die chinesischen Haushalte reich an Bargeld und Aktiva und dass Hypotheken nicht gefährdet sind. Es gibt vereinzelt Probleme bei Unternehmensschulden. Kollabierende Rohstoffpreise und schrumpfender Welthandel haben einige Unternehmensschuldner in Schwierigkeiten gebracht. Zugänglich sind die Finanzdaten für mehr als 2700 öffentlich gehandelte Unternehmen, einschließlich der größten des Landes, so ist es nicht schwierig, künftige Probleme zu identifizieren.

Generell deckt EBITDA (earnings before interest, taxes, depreciation and amortization)[1] die Kosten für Zinsaufwendungen der chinesischen Unternehmen um das sechsfache. Gleichwohl haben 12 % der chinesischen Unternehmen Bareinnahmen, die ihre Aufwendungen für Kredite – wenn überhaupt – nur knapp abdecken. Die ergibt sich aus einer Aufstellung des Maklerbüros „Reorient Group“ in Hong Kong.

Distribution of Debt Service/EBITDA Ratio for 2,700 Listed Chinese Companies

Verteilung von Schuldendienst/EBITDA Ratio für 2.700 chinesische Unternehmen

Jedoch zeigen einige dieser Unternehmen wiederansteigende Umsätze, was darauf hindeutet, dass ihre finanziellen Schwierigkeiten temporär sind. Und einige von ihnen haben so große Finanzpolster, dass ein Bankrott extrem unwahrscheinlich ist.

Auf Grundlage der Daten für die ersten Hälfte 2015 zeigt Reorients Übersicht, dass etwa 7,5 % der ausstehenden Schulden der gelisteten chinesischen Unternehmen Ausfallrisiken darstellen.


Für den Fall, dass alle Unternehmensschulden, die ausfallgefährdet sind, tatsächlich schlagend werden – eine sehr pessimistische Annahme – argumentiert Reorient, dass eine Unternehmensausfallrate von 8 % mit einer Erholungsrate von 50 % wahrscheinlich das Worst-Case Scenario für Unternehmensschulden ist. Chinesische Unternehmen pflegen sehr hohe Barreserven zu haben – im Durchschnitt beträgt ihre Höhe ein Drittel ihrer ausstehenden Gesamtschulden. Die entsprechenden Reserven der Unternehmen des S&P 1500 Index betragen dagegen nur 18 % (Wenn man die zehn liquidesten Unternehmen wie Apple und Google ausschließt).

Eine Ausfallrate von 8 % ergibt damit eine Verlustrate von 4 % für Unternehmensschulden. Das ist schmerzhaft, aber schwerlich kritisch. Die Ausfallraten für Hypotheken und Privatkredite dürften sehr niedrig sein, weil die Haushaltsfinanzen sehr stark sind.

Es bleibt das undurchsichtige Geschäft der „trust loans“, das heißt Kredite, welche die Bank kauft, in einen „trust“ bündelt und an Kunden verkauft, die hohe Renditen suchen. Die Analysten von Reorient nehmen eine extrem hohe Ausfallrate von 15 % und eine extrem niedrige Erholungsrate von 25 % an, und nehmen weiterhin an, dass die Banken diese Ausfälle aus ihrem eigenen Kapital werden decken müssen.

Alles zusammengenommen werden die chinesischen Banken einen einmaligen Verlust von 4,9 % ihrer Aktiva erleiden. Das ist schmerzhaft, aber keineswegs lebensbedrohlich. Reorient fasst die wahrscheinlichen Verluste der chinesischen Banken in der folgenden Graphik zusammen.

 

Dec-15 Balance
(RMB trn)
Default
Rate
Recovery Loss
(RMB trn)
Mortgage 10.4 5.0% 90% 0.1
Personal 16.6 5.0% 70% 0.2
Corporate 68.8 8.0% 50% 2.8
Trust 16.3 15.0% 25% 1.8
Total 112.1     4.9
NPL ratio 4.4%

 

Die Bankkreditvergabe hat in China stark zugenommen, aber nicht annähernd so schnell wie in den Vereinigten Staaten in den Blasen-Jahren oder beispielsweise auch in Spanien.

Privatkredite durch das amerikanische Bankensysten wuchsen von 120 % des Bruttoinlandsprodukts im Jahre 1995 auf 200 % im Jahre 2008. Die entsprechenden chinesischen Kredite erreichten 2013 nur 120 %. China hat immer noch zu wenig Banken; seine Haushalte verfügen über enorme Ersparnisse und enorme Reichtümer in Form von Wohneigentum wie auch eine enorme Kapazität Geld zu leihen. Internet-Finance wird sich wahrscheinlich in China schneller als irgendwo anders in der Welt entwickeln, da die junge chinesische Generation sich nicht damit aufhält, Bankfilialen zu besuchen, sondern ihre privaten Finanzgeschäfte gleich per Smartphone erledigt. Die Ansammlung großer Datenmassen ermöglicht es, Konsumentenkredite sofort mit großer Genauigkeit zu berechnen, und so elektronischen Handel und elektronisches Banking in eine weit effektivere Konsumwirtschaft zu integrieren.

Konsumausgaben machen nur 35 % des chinesischen Bruttoinlandsprodukts aus, verglichen mit 75 % in den Vereinigten Staaten. Zwar ist dieser Unterschied teilweise darauf zurückzuführen, dass das chinesische Bruttoinlandsprodukt anders berechnet wird, aber gleichwohl ist klar, dass China noch enormes Potential für konsumgetriebenes Wachstum hat.

Einige der Horrorgeschichten über China verweisen auf die Statistik: Die Gesamtverschuldung in China ist 2,4 Mal so hoch wie das Bruttoinlandsprodukt. Das ist ein hoher Wert, aber er wird ausgeglichen durch ein weit höheres Volumen an Ersparnissen. Sicher, in einigen Bereichen wächst die Verschuldung zu schnell. Einige der alten Betriebe in Staatsbesitz bleiben Geldvernichtungsanlagen, und es wird Zeit brauchen, sie abzubauen und auszusondern. Aber das ist ein Managementproblem, keine Schuldenkrise.

Chinas Zentralregierung wie auch die Provinzialregierungen haben die gesundesten Bilanzen unter den großen Weltökonomien. Die öffentliche Staatsverschuldung beträgt nur ein Fünftel des Bruttoinlandsprodukts verglichen mit 100 % in den USA. Das gibt der chinesischen Regierung enormen Spielraum, ihren eigenen Kredit zu nutzen, um andere Schulden zu reorganisieren, bevor sie zu einem Problem werden.

Blau = Staatsschulden der USA prozentual zum Bruttoinlandsprodukt:

Rot: Chinesische Staatsschulden prozentual zum Bruttoinlandsprodukt:

usvschinadebtgdp

Das gibt China viel Flexibilität und die Regierung nutzt sie, um mögliche Finanzprobleme bereits im Vorfeld zu bereinigen. Eine andere Sorge sind die lokalen Staatsfinanzen. Der chinesische Infrastrukturboom ist eines der Wunder unserer Zeit. Fliegen Sie irgendeine chinesische Großstadt an, und Sie sehen einen brandneuen Flughafen, neue Autobahnen, neue Hochgeschwindigkeitszüge. Dagegen wirken amerikanische Städte nachgerade wie in der Dritten Welt. Die lokalen Verwaltungen haben Entwicklungs-Gesellschaften gegründet, abgesichert durch Immobilien und Projekteinnahmen (genannt „Finanzinstrumente der Lokalverwaltung“  = local governement financing vehicles), die mittlerweile 20 Billionen Renminbi Schulden angehäuft haben. Die Immobilien hinter den „Finanzinstrumenten“ haben an Wert gewonnen, aber in einigen Städten mögen Probleme auftauchen. Zudem zahlen die Lokalverwaltungen viel höhere Zinsen als die Zentralregierung. So wird die Regierung die gesamten 20 Billionen der Lokalverwaltungen gegen Wertpapiere eintauschen, die gegen geringere Zinsraten von den chinesischen Provinzen ausgegeben werden. Das wird die öffentliche Verschuldung auf etwa 45 % des Bruttoinlandsprodukts erhöhen, aber das ist immer noch kaum die Hälfte des amerikanischen Niveaus.

Auch wenn der Himmel den Chinesen nicht auf den Kopf fällt, die Aktienkurse sind gefallen. Teilweise ist das das Resultat des generellen Runs auf Aktien der Schwellenländer, eine Reaktion auf die übelberatene Entscheidung der Federal Reserve, die kurzfristigen Zinssätze zu erhöhen.

Es gibt keinen wirtschaftlichen Grund für China, im Gleichschritt mit (beispielsweise) Brasilien zu marschieren, ein Rohstoffexporteur mit wenig verarbeitender Industrie. China gewinnt und Brasilien verliert, wenn die Rohstoffpreise fallen. Die nahezu perfekte Korrelation zwischen dem Index der Märkte der Schellenländer (Broad Emerging Markets Index) und dem chinesischen MSCI-Indes (internationally tradeable Chinese stocks = international handelbare chinesische Aktien) hat ihre Ursache in der breiten Liquidation von ausfallgefährdeten Positionen als Antwort auf die Aktion der Federal Reserve.

Sicher, China hat eine Reihe von Dummheiten begangen, die seine Probleme verschärfen. Indem es den Renminbi an den steigenden Dollar band, erlaubte China, seinem eigenen Wechselkurs zu steigen. Das Band mit dem Dollar zwang China, die Realzinsen auf dem höchsten Stand aller großen Weltökonomien zu halten.

Effektiver realer Wechselkurs des Renminbi:

Source: BIS

China hat Maßnahmen ergriffen, das Problem zu korrigieren (indem es den Renminbi statt an den Dollar an einen nach Handelsvolumen gewichteten Korb verschiedener Währungen bindet), aber es hat zu spät gehandelt, um den Eindruck zu vermeiden, dass es von den Ereignissen getrieben wurde, statt diese zu lenken. Regulative Fehler (etwa das Versäumnis, die Banken davon abzuhalten, die Begrenzung der Hebelung von Papieren zu umgehen) haben das Problem verschärft. Die Faktoren, welche die chinesischen Aktienkurse beeinflussen, verlangen eine detailliertere Erklärung bei einer anderen Gelegenheit.

Die gute Nachricht für Investoren in Aktien ist, dass die Kombination von Panik an den Märkten und offizieller Tatenlosigkeit zusammengewirkt haben, um die chinesischen Aktienkurse auf einen Stand zu drücken, der sie extrem attraktiv macht.

[1] EBITDA ist die Abkürzung für englisch: „earnings before interest, taxes, depreciation and amortization“. Das bedeutet „Gewinn vor Zinsen, Steuern, Abschreibungen auf Sachanlagen und Abschreibungen auf immaterielle Vermögensgegenstände“. Es ist somit eine Beschreibung der operativen Leistungsfähigkeit vor Investitionsaufwand (operativer Gewinn).

Autor: Stefan O. W. Weiss

Leon de Winter zählte die Kolumnen von David P. Goldman, besser bekannt unter seinem nom de plume „Spengler“, „zu den allerinteressantesten, die es weltweit zu lesen gibt“. Seine Texte, die er meist in „Asia Times“ und „PJMedia“ veröffentlicht, haben eine Leserschaft gefunden, die in die Hunderttausende geht. Er behandelt so verschiedene Themen wie Philosophie, Literatur, Wirtschaftswissenschaften, Theologie, Strategie, Weltpolitik, Musik und andere mehr mit gleicher Souveränität und Kompetenz. In Deutschland ist er ein Geheimtipp geblieben, bedauerlicherweise, da er ein vorzüglicher Kenner der deutschen Geistesgeschichte ist. Seine Essays über Wagner, Goethe, Schiller seien doch wenigstens en passant erwähnt. Um dem deutschen Leser die Lektüre zu erleichtern, beabsichtige ich, in diesem Blog seine Texte fortlaufend in Deutsche zu übersetzen. Ich habe dieses Projekt seit einigen Monaten verfolgt, der erste hier auf Deutsch veröffentliche Text stammt vom Oktober 2015. In den kommenden Wochen gedenke ich, seine nachfolgenden Texte in chronologischer Reihenfolge zu veröffentlichen, bis der Anschluss zu Gegenwart erreicht ist.

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