Spengler auf Deutsch 17: Warum ist die Welt besessen von Israels Auserwähltheit?

Der Originaltext erschien am 24. Dezember 2015 unter dem Titel “Why is the world obsessed with the Election of Israel?” in Asia Times.

JERUSALEM – Israels Auserwähltheit ist erneut ein Thema für die Medien, nachdem eine päpstliche Kommission in ihrem Bericht die ewige Gültigkeit von Gottes Bund mit dem jüdischen Volk betont hat. Die abendländische Elite hat dieses Thema seit langem als Aberglauben abgetan. Die große Mehrheit der amerikanischen Juden denkt, dass die Auserwähltheit ein jüdischer Volksglaube ist wie Dibbuks[1] oder der Golem[2] (zum Vergleich: 70% der israelischen Juden glauben, dass die Juden Gottes auserwähltes Volk sind).

Die abendländische Elite wünscht, dass die Menschen rational handeln, und hält alle übernatürlichen Ansprüche für eine Beleidigung der Vernunft. Das Problem ist, dass die Menschen eben nicht rational handeln (ebenso wenig wie die abendländische Elite, aber das ist ein anderes Thema). Wir wollen ewig leben oder wir wollen überhaupt nicht leben. Wenn wir den Glauben verlieren, hören wir auf, uns fortzupflanzen. Hier und da mag es einen vereinzelten Philosophen geben, der so von der Unsterblichkeit der Seele überzeugt ist, dass er den Tod verachtet, so wie Sokrates es beanspruchte (obwohl ich selbst bei ihm meine Zweifel habe). Sicher, wir können nicht ewig leben, aber wir können an einer Kultur partizipieren, die uns mit unseren Vorfahren und Nachkommen zu einer unsterblichen Kette verbindet.

Deshalb bleibt die Auserwähltheit Israels das wichtigste Thema der westlichen Welt. Milliarden von Nichtjuden glauben, dass Gott Israel auserwählte: die meisten der einundeinviertel Milliarde der Katholiken, und die meisten von etwa einer Milliarde von Evangelikalen, Charismatikern und Pfingstlern. Zu ihnen würde ich auch einen Teil der 1,3 Milliarden Muslime zählen, die nicht glauben, sondern eher fürchten, dass Israel letztlich doch auserwählt sein könnte. (Chinesen und Inder, deren Zivilisation älter als Abraham ist, haben kaum Interesse an dem Thema).

Israel bleibt das Zentrum der westlichen Welt, weil jede menschliche Hoffnung auf Unsterblichkeit westlich des Indus sich an der Verheißung des biblischen Gottes für Abraham (Genesis 17,7) messen lassen muss, der Verheißung eines „ewigen Bundes“ mit seinen Nachkommen. Bis dahin hatte kein Volk sich für ewig gehalten. Selbst die heidnischen Götter waren nicht ewig, obwohl ihre Lebensspanne größer als die der Sterblichen war. Der babylonische Gilgamesch suchte ewiges Leben und erfuhr, dass sein Streben vergebens war. Jedoch der Chaldäer Abraham aus Ur erhielt die Verheißung unerbeten als einen unerklärlichen Akt der Liebe von dem Schöpfer des Himmels.

Mit Abrahams Verheißung erscheint die Hoffnung auf ewiges Leben unter all den Völkern der Welt. Der große jüdische Philosoph Michael Wyschogrod, der am 18. Dezember (2015) verstarb, hat erklärt, dass Gottes Wahl von Abraham und seinen Nachkommen eine erste, aber keine exklusive Liebe war. Ganz im Gegenteil schrieb er: „die Auserwähltheit Israels entspringt der Väterlichkeit, die sich auf alle erstreckt, die nach dem Bilde Gottes erschaffen sind, (und) wir finden uns selbst mit allen Menschen brüderlich verbunden … wenn man dieses Mysterium betrachtet, dass der Ewige, der Schöpfer des Himmels und der Erde, sich entschied, der Vater seiner Kreaturen zu werden, statt selbstgenügsam bei sich selbst zu bleiben, wie der Absolute der Philosophen. Da wallt im Menschen der Lobpreis auf, der so rar geworden und doch so natürlich ist“.

„Das Christentum“, schreibt Wyschogrod, „drückt das Verlangen derjenigen aus, die nicht in den Bund mit Israel durch die Auswahl des Gottes Israel eingeschlossen sind“. Es ist kleinlich, wenn Juden auf den Wunsch anderer Völker nach Auserwähltheit herabsehen – vorausgesetzt, dass diese Hoffnung nicht die Auslöschung der Juden verlangt. Christen hoffen ebenfalls, ewig zu leben, als adoptierte Kinder Israels, statt als Mitglieder des zusammengewürfelten Sortiments aus Stämmen und Nationen, das der Kirche beitrat. Das Selbstopfer von Jesus von Nazareth am Kreuz, so glauben die Katholiken, vergalt die Sünde ihrer Geburt als Heiden, und niemand kann das Königreich des Himmels erlangen, außer durch Jesu Vermittlung – außer, mysteriöserweise, die Juden, wie der Vatikan betont.

Wyschogrod bemerkte kaustisch, dass Gott einen Bund schließen kann, mit wem auch immer er will, einschließlich (beispielsweise) den Christen. Ohne mir christlichen Theologie zu eigen zu machen, wünsche ich meinen christlichen Freunden fröhliche Weihnachten.

“Dass die Juden an Gottes Erlösung teilhaben, ist theologisch unbestreitbar, aber wie das möglich sein kann, ohne Christus explizit zu bekennen, ist und bleibt ein unfassbares göttliches Mysterium”, schreibt die vatikanische Kommission. Damit ist in schlichtem Englisch gemeint, dass die christliche Hoffnung auf ewiges Leben Gottes bevorzugende Liebe für Israel voraussetzt, dass also Gottes Verheißung für die Christen nicht gültig sein kann, wenn sein ewiger Bund mit den Juden ungültig ist – selbst wenn die Christen den Glauben, dass Jesus der einzige Weg zur Erlösung ist, nicht aufgeben können, ohne aufzuhören, Christen zu sein.

Dem Glauben der Kirche zufolge ist Christus der Retter für alle. Es kann keine zwei Wege der Erlösung geben, daher ist seither Christus der Erlöser der Juden zusätzlich zu dem der Heiden. Wir stehen hier vor dem Mysterium von Gottes Werk; es geht nicht um missionarische Aktivitäten, um die Juden zu bekehren, sondern eher um die Erwartung, dass der Herr die Stunde bestimmt hat, in der wir alle vereint sein werden, „wenn alle Völker Gott mit einer Stimme anrufen werden und ihm Schulter an Schulter dienen werden (Nostra aetate Nr. 4)“.

Anders als manche Pressemeldungen berichten, hat die päpstliche Kommission die Hoffnung auf eine Bekehrung der Juden zum Christentum nicht aufgegeben; sie sagt lediglich, dass diese eine göttliche Intervention in ferner Zukunft erfordern wird. Es steht nichts Neues in dem Bericht. Da die Kirche sich selbst als Israel betrachtet, und ebenso anerkennt, dass das jüdische Volk ein Teil von Israel ist, wünscht sie die zwei Flügel von Israel vereint als eine eschatologische Hoffnung. Das war schon das Fazit der Kontroverse von 2008 über die revidierte lateinische Osterliturgie, die Gebete für die letztendliche Bekehrung der Juden enthielt.

Das Problem der Bekehrung berührt einen wunden Punkt unter Juden infolge der erzwungenen Bekehrungen in der Vergangenheit, von denen die Ausweisung der Juden aus Spanien 1492 die bekannteste ist. Dieser Punkt ist irrelevant. Die Kirche ist im Niedergang und schafft es nicht einmal, nominale Katholiken zum Kirchgang zu bewegen, geschweige denn zu missionieren. Es gibt ein größeres Problem zwischen der Kirche und den Juden; es rührt her aus den völlig unterschiedlichen Vorstellungen, was es bedeutet, Israel zu sein.

Die katholische Kirche hat den Juden im letzten Jahr schweren Schaden zugefügt, als der Vatikan einen palästinensischen Staat anerkannte, bevor bilaterale Friedensverhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern stattgefunden haben. Er tat dies, als nicht nur die Vereinigten Staaten, sondern auch Deutschland und viele andere westliche Länder dies aus einem naheliegenden Grund verweigerten: Die palästinensische Führung will Staatlichkeit erreichen ohne ein Abkommen über die endgültige Einstellung der Feindseligkeiten und Anerkennung des Existenzrecht des jüdischen Staates. Die israelischen Premierminister Ehud Barak und Ehud Olmert haben jeweils Yassir Arafat und Mahmoud Abbas einen Staat angeboten, der 95 % der Westbank und die Hälfte von Jerusalem umfasste. Palästinenserpräsident Abbas erklärte kürzlich, dass er 2008 Olmerts Angebot “von Vornherein” ablehnte. Abbas versuchte nicht, ein besseres Abkommen auszuhandeln; er lehnte jedes Abkommen „von Vornherein“ ab, das Israel anerkannt hätte. Er tat dies, weil die große Mehrheit der palästinensischen Araber den Gedanken einer ständigen jüdischen Anwesenheit in ihrem historischen Heimatland nicht ertragen kann.

Staatlichkeit ohne endgültigen Friedensvertrag würde aus einem palästinensischen Staat eine weitere Plattform für Raketen- und Terrorangriffe auf Israel machen, wie den südlichen Libanon oder den Gazastreifen. Auf diese Weise, glauben die Palästinenser, könnten sie Israel zerstören. Die vatikanische Anerkennung von „Palästina“ unterstützte diesen Plan und setzt jüdisches Leben aufs Spiel. Aus meiner Sicht ist das ein weit schlimmeres Vergehen als Pius XII. Zurückhaltung, Hitler zu kritisieren. Die Katholiken können gern versuchen, mich zu bekehren. Das stört mich nicht. Wir Juden hatten schon einen Bund mit dem Schöpfer des Himmels 1300 Jahre bevor Jesus von Nazareth geboren wurde. Wir sind Gründungspartner. Selbst wenn Jesus sich als der Sohn des Chefs herausstellen sollte (was ich nicht glaube), haben wir unwiderrufliche Rechte. Aber die Anerkennung eines „palästinensischen Staates“ fügt uns wirklichen, handfesten Schaden zu: Sie legitimiert die palästinensische Besessenheit, die jüdische Anwesenheit in Eretz Israel zu beenden.

Jedoch glaube ich nicht im Entferntesten, dass Papst Franziskus diese Übereinkunft etwa aus Groll gegen die Juden geschlossen hätte. Christen verstehen Israel als eine geistige Einheit; sie stilisieren sich selbst als das Israel des Geistes, nicht als das des Fleisches. Für Juden ist „Israel des Geistes“ ein Widerspruch in sich, da das Judentum nicht einfach eine Ansammlung von Glaubensartikel ist, sondern das nationale Leben des jüdischen Volkes. Jüdische Nationalität und jüdische Religion sind unzertrennlich; nicht umsonst beteten wir nach der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 n. Chr. täglich drei Mal für die Rückkehr nach Zion. Das Judentum ist jetzt überwiegend eher eine israelische als eine Diasporareligion, und wenn die aktuellen Trends andauern, wird es in einer Generation fast völlig israelisch sein.

Das ist es, was Wyschogrod den Christen zu erklären versucht hat: Das Judentum ist eine Religion des Körpers, eine Anstrengung, das physische jüdische Volk zu heiligen, so dass es als Gefäß für Gottes Einwohnung (Schechina) auf Erden dienen kann. Von Gottes Bund mit Israel zu sprechen und zugleich den jüdischen Staat zu unterminieren, verrät nicht so sehr Heuchelei, als vielmehr eine völlige theologische Konfusion. Die Evangelikalen wissen es besser und unterstützen den Staat Israel und das gegenwärtige Volk Israel. Die vatikanische Erörterung über Gottes Bund enttäuscht intellektuell ebenso wie praktisch, indem sie von dem konkret vorhandenen Staat Israel abstrahiert. Mysterium, Schmysterium. Die Kirche könnte besseres tun, wie ich in einem 2008 erschienenen Essay (“Zionism for Christians” = Zionismus für Christen) in der (vornehmlich) katholischen Zeitschrift „First Things“ dargelegt habe.

Die Kirche missversteht den Islam ebenso grundsätzlich wie das Judentum. Christen können Gottes Verheißung an sie nicht bejahen, ohne zugleich Gottes Verheißung an die Juden zu bejahen. Der Islam aber kann seine eigene Legitimität nicht bejahen, ohne zugleich Gottes Verheißung an die Juden (und ebenso an die Christen) zu verneinen. Die Ansicht, dass die hebräische Bibel eine späte Fälschung sei, taucht nicht erst mit der modernen „höheren Kritik“ auf, sondern schon im 11. Jahrhundert bei dem islamischen Gelehrten Ibn Hazm, der behauptete, die Thora wäre eine nachexilische Kompilation des Schreibers Ezra. Wären die hebräischen Schriften authentisch, bestände keine Notwendigkeit für eine neue Offenbarung – außer vielleicht um die Araber als neues auserwähltes Volk an die Stelle der Juden zu setzen.

Der Islam ist fragil. Anders als Juden- und Christentum hat er die ätzende Kritik der Bibelkritiker nicht überlebt, die nach jahrhundertelanger Anstrengung nicht beweisen können, dass Jesus von Nazareth nicht gesagt hat, was die Evangelien ihm zuschreiben, oder dass Moses die Thora nicht vom Himmel am Berge Sinai empfangen hat. Ganz im Gegenteil hat die biblische Archäologie erschöpfendes Material zur Existenz des Reiches von König David vor 3000 Jahren bereitgestellt. Dagegen sind die Ursprünge des Islam so dunkel, dass Gelehrte behaupten können, dass der historische Mohammed nie existiert hat.

Es ist ein Karrierekiller (und vielleicht ein realer Selbstmord) solche Themen an heutigen Universitäten zu erörtern. Gelehrte dürfen christliche und jüdische, aber keine muslimischen Glaubenssätze in Zweifel ziehen. Ganz im Gegenteil ist es in der muslimischen Welt populär, jeden Zusammenhang der Juden mit dem Volk Israel zu bestreiten, was eine selbstauferlegte Schizophrenie ist. Ein undenkbarer, unerträglicher Gedanke lauert im Herzen des Islam, dass nämlich die Rückkehr der Juden nach Zion die Prophezeiungen über die Juden, auf Kosten der über die Muslime beglaubigt. Das ist der Grund, warum die lebendige Anwesenheit des jüdischen Volkes in seiner historischen Heimat und Hauptstadt eine existentielle Bedrohung für die muslimische Identität ist.

Zahlreiche Muslime (und die große Mehrheit der palästinensischen Araber) glauben, dass Israel schändliche Absichten gegen die Al-Aqsa Moschee auf dem Tempelberg in Jerusalem hegt. Das ist Unsinn, aber die gewalttätigen Emotionen, die als Antwort selbst auf geringfügige jüdische Anwesenheit auf dem Tempelberg ausbrechen, verraten die tiefe Unsicherheit der Muslime über die Rückkehr des jüdischen Volkes nach Zion. Darum werden die Palästinenser kein „Ja“ als Antwort von Israel akzeptieren. Die muslimische Welt fiel erst hinter Europa zurück, dann hinter Asien. Jüdischer Erfolg ist eine Demütigung, zu schwer zu ertragen für viele Muslime (und die meisten palästinensischen Araber). Ein Wandel in den Aussichten für den Nahen Osten würde einen grundlegenden Wandel in den muslimischen Gefühlen voraussetzen, und das wird nicht so bald geschehen.

 

[1] Ein Dibbuk ist nach jüdischem Volksglauben ein oft böser Totengeist, der in den Körper eines Lebenden eintritt und bei diesem irrationales Verhalten bewirkt.

[2] Der Golem ist um ein aus Lehm gebildetes, menschenähnliches Wesen von gewaltiger Stärke, das die Befehle seines Herrn ausführen muss, sozusagen ein jüdisches Gegenstück zu Frankensteins Monster.

Autor: Stefan O. W. Weiss

Leon de Winter zählte die Kolumnen von David P. Goldman, besser bekannt unter seinem nom de plume „Spengler“, „zu den allerinteressantesten, die es weltweit zu lesen gibt“. Seine Texte, die er meist in „Asia Times“ und „PJMedia“ veröffentlicht, haben eine Leserschaft gefunden, die in die Hunderttausende geht. Er behandelt so verschiedene Themen wie Philosophie, Literatur, Wirtschaftswissenschaften, Theologie, Strategie, Weltpolitik, Musik und andere mehr mit gleicher Souveränität und Kompetenz. In Deutschland ist er ein Geheimtipp geblieben, bedauerlicherweise, da er ein vorzüglicher Kenner der deutschen Geistesgeschichte ist. Seine Essays über Wagner, Goethe, Schiller seien doch wenigstens en passant erwähnt. Um dem deutschen Leser die Lektüre zu erleichtern, beabsichtige ich, in diesem Blog seine Texte fortlaufend in Deutsche zu übersetzen. Ich habe dieses Projekt seit einigen Monaten verfolgt, der erste hier auf Deutsch veröffentliche Text stammt vom Oktober 2015. In den kommenden Wochen gedenke ich, seine nachfolgenden Texte in chronologischer Reihenfolge zu veröffentlichen, bis der Anschluss zu Gegenwart erreicht ist.

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