Spengler auf Deutsch 25: Die aktuelle Lage in Syrien – hoffnungslos, aber nicht ernst

Das Original erschien am 16. Februar 2016 unter dem Titel „Today’s Middle East – hopeless but not Syrious” in Asia Times.

Willkommen im immerwährenden Krieg – so interpretierte der russische Premierminister Dimitri Medvedev die aktuelle Lage im Nahen Osten. Das ist nicht so schlimm, wie es sich anhört, vorausgesetzt natürlich, Sie sind nicht in ihn verwickelt. Das Großfeuer, entstanden aus Stammesrivalitäten und nationaler Desillusionierung, wird sich allmählich ausbrennen müssen. Das Risiko liegt in der möglichen Ausbreitung auf andere Regionen.

Zunächst ein kurzer Überblick, was in Syrien nicht passieren wird:

  • Weder die Türkei, noch Saudi-Arabien werden Bodentruppen nach Nordsyrien senden und die von den USA unterstützten kurdischen Milizen bekämpfen. Der türkische Verteidigungsminister Ismet Yilmaz erklärte am Samstag, dass sein Land “keine Absichten” habe, seine Armee nach Syrien zu entsenden, während der saudische Außenminister Adel al-Jubeir sagte, der Einsatz saudischer Kräfte hänge von den Vereinigten Staaten ab.
  • Die Türkei wird keine Kampfflugzeuge nach Syrien schicken, um von der russischen Luftabwehr abgeschossen zu werden. Die Türkei würde ihre Flugzeuge nur dann opfern, wenn sie hoffen könnte, die Vereinigten Staaten in eine Konfrontation mit Russland zu locken, und die Vereinigten Staaten haben Ankara offensichtlich mitgeteilt, dass es auf sich allein gestellt ist. Saudi-Arabien mag einige Flugzeuge in der Türkei stationieren, wird sie aber nicht einsetzen. Die Vereinigten Staaten wollen nicht herausfinden, wie gut Russlands S-400 Luftabwehrsystem wirklich ist. Analysten des Pentagon glauben, dass es wirklich sehr gut ist.
  • Die russisch-iranische Belagerung von Aleppo wird die Flut syrischer Flüchtlinge nur wenig erhöhen. Etwa 40.000 Menschen sind aus Aleppo und den benachbarten Städten geflohen. Aber die syrischen Flüchtlingszahlen haben schon Ende 2013 5 Millionen erreicht.
  • Russland und die Vereinigten Staaten werden nicht wegen eines seit langem unrettbaren levantinischen Wüstenstreifens in eine strategische Konfrontation stolpern.

Sicher, die Türkei, Saudi-Arabien und der Iran haben existentielle Interessen in dem syrischen Konflikt, aber die großen Mächte, von denen sie abhängen, haben solche nicht. Wir sind nicht im Jahre 1914, als Österreich-Ungarn glaubte, dass es Serbien demütigen müsse, um das russische Vordringen im Balkan einzudämmen, und Deutschland glaubte, es müsse zu seinem österreichischen Alliierten halten oder werde durch England, Frankreich und Russland isoliert werden. Syriens muslimische Nachbarn sind alle auf der einen oder anderen Stufe des Niedergangs, und das ist die Quelle ihrer Verbitterung. Und das ist der Grund, warum ihre Sponsoren in Washington und Moskau nicht in ihre Streitigkeiten hineingezogen werden wollen.

Der Iran, die Türkei und Saudi-Arabien werden in ihrer jetzigen Form keine weitere Generation weiterexistieren. Der Iran und die Türkei sind einem demographischen Niedergang ausgesetzt, der in etwa 20 Jahren mit voller Stärke zuschlagen wird. Je nachdem, wie der Ölpreis sich entwickelt, werden dem Iran zuerst das Geld oder die jungen Menschen oder das Wasser ausgehen – aber alle drei werden ihm in absehbarer Zeit ausgehen. Die kurdische Minorität in der Türkei hat zwei Mal so viel Kinder wie die ethnischen Türken, so dass sie unter den Türken im militärdienstpflichtigen Alter binnen einer Generation die Mehrheit stellen werden. Saudi-Arabien wird beim gegenwärtigen Ölpreis binnen fünf Jahren das Geld ausgehen und sein aufgeblähtes Wohlfahrtssystem (wie ich schon früher dargelegt habe) wird kollabieren.

Die folgende Graphik zeigt, dass die kurdischen Regionen der Türkei (besonders der Südosten) eine Fruchtbarkeitsrate von 2,8 bis 3,4 Geburten pro Frau haben, während die westlichen Provinzen, in denen ethnische Türken dominieren, eine Fruchtbarkeitsrate von nur 1,6 bis 1,8 haben.

Türkische Fruchtbarkeitsrate nach Provinzen, 2013:

Kurdish Regions of Turkey Have Twice the Fertility of Ethnic Turkish Regions

Solange der Todeskampf im Nahen Osten verbleibt, sind die strategischen Risiken für den Rest der Welt gering. Er ist abstoßend, aber nicht gefährlich. Das Risiko besteht darin, dass der Konflikt auf den Rest der Welt überschwappen könnte. Er gibt zwei Möglichkeiten, wie das passieren könnte: durch Aktionen von Terroristen am Boden und durch Langstreckenraketen, die mit Massenvernichtungssprengköpfen ausgerüstet sind.

Die Obamaregierung (und zu einem gewissen Grade auch schon die Bushregierung) haben das Risiko des Überschwappens in beiden Formen erhöht. Eine Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, die parallel zu dem P5+1-Nuklearabkommen mit dem Iran verabschiedet wurde, verbietet dem Iran den Bau von Raketen, „die geeignet sind, Nuklearwaffen zu tragen“. Im Oktober (2015) hat der Iran eine nukleartaugliche Langstreckenrakete getestet, und die Obamaregierung verlangte keine Sanktion. Offensichtlich machen sich Präsident Obama und Außenminister Kerry mehr Sorgen um ihr Bild in den Geschichtsbüchern als um die Sicherheit der Welt. Das iranische Arsenal an Langstreckenraketen stellt eine existentielle Bedrohung sowohl für Israel als auch für Saudi-Arabien dar und wirft Fragen für Pakistan auf, bisher die einzige muslimische Nuklearmacht und ein Alliierter von Saudi-Arabien.

Washington hat auch die Ausbreitung des Dschihadismus begünstigt, indem es „moderate Islamisten“ begünstigt hat, die nicht moderat waren. Das ist nicht nur Obamas Fehler. Ein breiter Konsens in der demokratischen wie der republikanischen Partei, der von Reuel Marc Gerecht beim Weekly Standard bis zu Amr Hamzawi beim Carnegie Endowment reicht, glaubt, dass „moderate Islamisten“ der Schlüssel sind, um die muslimische Welt zu reformieren. Aber die „Moderaten“ stellen sich oft als „Radikale“ heraus oder verwandeln sich in „Radikale“. Das zeigte sich schon 2007-2008 bei dem „Surge“ im Irak, wie Angelo Codevilla in einem Essay für Asia Times vom 23. Dezember 2015 gezeigt hat, und wie Generalmajor (a. D.) Daniel Bolger in seinem 2014 erschienenen Buch Why We Lost (Warum wir verloren haben) dokumentiert hat. General David Petraeus, damals amerikanischer Oberkommandierender im Irak, zahlte Hunderte von Millionen Dollars an den “Sunni Awakening” (sunnitisches Erwachen) und die “Sons of Iraq” (Söhne des Irak); viele von deren Kämpfern bildeten später die Kerntruppe von ISIS.

Es ist auch wahr, dass Amerika die sunnitischen Rebellen in Syrien offen und verdeckt unterstützt. Wir werden vielleicht nie die ganze Geschichte über den Angriff vom 11. September 2012 auf das amerikanische Konsulat in Benghazi hören, weil es die Transporte von leichten Waffen aus libyschen Depots an syrische Rebellen ans Licht bringen und unzähligen Karrieren und Reputationen ruinieren würde. Berichten zufolge hat Petraeus sich für amerikanische Unterstützung für die syrische “al-Nusra Front”, den lokalen Ableger von Al-Kaida, ausgesprochen. Sie solle als Gegengewicht zu ISIS in Syria dienen. Das klingt verrückt, ober vielmehr, es würde verrückt klingen, wenn es anderswo als in Washington vorgeschlagen werden würde. Wenn es zu Beginn der „Arabischen Frühlings“-Rebellion 2011 tatsächlich Moderate in Syrien gegeben haben sollte, so sind sie seit langem tot oder geflohen.

Amerikas Unterstützung für Islamisten hat Verschwörungstheorien in russischen und chinesischen Medien hervorgerufen, die Vereinigten Staaten hätten ISIS geschaffen, um ihre Rivalen zu destabilisieren. Das ist nicht der Fall. Die Amerikaner sind demokratieverrückt. Der durchschnittliche Republikaner wie der durchschnittliche Demokrat glaubt gleichermaßen, dass die bloße Form der Demokratie als solche nahezu alle Übel einer Gesellschaft beseitigen wird. Noch so überzeugende Fakten, die das Gegenteil beweisen, schaffen es nicht, den Demokratiekult zu erschüttern. Der stabilste arabische Staat ist Ägypten, wo das Militär (unter großem öffentlichem Beifall) die gewählte islamistische Regierung von Mohamed Morsi gestürzt hat. Aber der durchschnittliche Republikaner glaubt immer noch, eine islamistische Demokratie hätte in Ägypten erreicht werden können, wenn nur die Vereinigten Staaten „nachdem Morsi zuerst gewählt worden war, ihren beträchtlichen Einfluss in Ägypten gegen das ägyptische Militär und die Sicherheitsdienste eingesetzt hätten, welche eine offene Bedrohung für die demokratische Zukunft waren, und auch gegen Morsi und die (Muslimbruderschaft), deren autoritäre Tendenzen ebenfalls sichtbar waren“. So argumentiert Gerecht im “Weekly Standard”.

Dieser Glaube in Washingtons Fähigkeit, die nationale Tragödie anderer Länder managen zu können, ist ebenso rührend wie tödlich. Der Islamismus bildet eine existentielle Bedrohung für Russland und eine ernste Bedrohung für China. Wie ich schon früher berichtet habe, beklagt sich China, dass Mitglieder der saudischen Königsfamilie muslimische Radikale in China finanzieren. Einer von sieben Russen ist Muslim, und Tausende von russischen Dschihadisten kämpfen mit den sunnitischen Rebellen in Syrien. Ebenso kämpfen bis zu zweitausend chinesische Muslime, meist Uighuren aus Westchina, in Syrien. Russland hat mehrere Gründe, in Syrien zu intervenieren, darunter seine Marinebasis in Tartus, aber die innere Sicherheit ist bei weitem der dringendste. Nahezu alle russischen und chinesischen Muslime sind Sunniten, was den schiitischen Iran zu einem natürlichen Verbündeten macht.

Russland hat Flugzeuge aus der Kalten-Kriegs-Ära und ungelenkte Bomben benutzt, um Konzentrationen sunnitischer Kämpfer zu dezimieren, einschließlich einiger Alliierter sei es von Saudi-Arabien, der Türkei, Katar und den Vereinigten Staaten. Moskau mag es genießen, amerikanische Anstrengungen, eine sunnitische Koalition am Boden zusammenzubringen, zu torpedieren, aber die Vereinigten Staaten zu demütigen ist nicht das Hauptziel der russischen Politik. Dieses besteht darin, sunnitische Islamisten zu töten. Die Russen verfolgen diese Absicht, ohne sich viel um Kollateralschäden zu kümmern. Ein großer Anteil ziviler Verluste liegt in der Natur dieser Art der Kriegführung; zum Vergleich: Die Vereinigten Staaten verursachten (im Irakkrieg) den Tod von etwa 165.000 toten irakischen Zivilisten. Ferngelenkte Munition hilft nicht viel, wenn irreguläre Kämpfer in von Zivilisten bevölkerten Orten Zuflucht suchen.

Der Kollaps der sunnitischen Rebellen infolge der russischen Bombardements ist eine demütigende Niederlage für die Türkei und Saudi-Arabien, die angedroht haben, Truppen nach Syrien zu schicken, um den Russen und den iranischen Revolutionsgarden, die jetzt allem Anschein nach die Oberhand haben, entgegenzutreten. Aber weder die Türken noch die Saudis werden so etwas tun. Saudi-Arabien ist kein Staat, sondern eine Familie mit einer Fahne, und es hat Soldaten, die willig sind, in einem fremden Land für die königliche Familie zu sterben. Das türkische Militär hat Präsident Erdogan gesagt, dass ein Eindringen nach Syrien eine Verrücktheit wäre, und dem Vernehmen nach diese Idee entschieden zurückgewiesen. Die Türkei würde gern seine NATO-Alliierten involvieren, aber diese haben kein Interesse daran, durch den kranken Mann der NATO in eine Konfrontation mit Russland gelockt zu werden.

Die am wenigsten schlechte Vorgehensweise ist eine Aufteilung Syriens in ethnische Enklaven, wo Zivilisten relativ sicher wären. Das ist die Ansicht des israelischen Verteidigungsministers Moshe Yaalon und des israelischen Geheimdienstchefs Ram Ben-Barak, wie Reuters berichtet.

“Leider müssen wir uns auf eine sehr, sehr lange Zeit chronischer Instabilität einstellen“, sagte er. „Und Teil jeder großen Strategie besteht darin, die (Fehler der) Vergangenheit zu vermeiden, zu sagen, wir wollen Syrien einigen. Man kann aus einem Ei ein Omelett machen, aber man kann aus einem Omelett kein Ei machen“. Bezüglich einiger der kriegführenden Sekten fügte Yaalon hinzu: „Wir sollten uns klarmachen, dass sich Enklaven entwickeln werden – ‚Alawistan‘, ‚syrisches Kurdistan‘, ‚syrisches Drusistan‘. Sie mögen kooperieren oder einander bekämpfen“.

Ram Ben-Barak, leitender General der israelischen Nachrichtendienste, beschrieb eine Teilung als „die einzig mögliche Lösung“. „Ich denke das Syrien letztlich in Regionen aufgelöst werden sollte, unter der Kontrolle desjenigen, der dort eben ist“, sagte er im israelischen Armeeradio. Er argumentierte, dass Assads alewitische Minorität keine Möglichkeit hätte, das Schisma mit den sunnitischen Majorität zu beseitigen. „Ich sehe nicht, wie eine Situation erreicht werden könnte, wo die 12 % Alewiten wieder über die Sunniten herrschen, von denen sie eine halbe Million umgebracht haben. Das wäre einfach verrückt“.

Es gibt naheliegende Maßnahmen, durch die die Vereinigten Staaten vermeiden könnten, dass das Desaster im Nahen Osten auf andere Länder übergreift. Die erste besteht darin, dem Iran sowohl Langstreckenraketen als auch Nuklearwaffen zu verweigern. Das ist leicht zu erreichen; die Zerstörung des iranischen Potentials an Massenvernichtungswaffen wäre in einer Ein-Nacht-Operation durchführbar, wie der frühere israelische Premierminister Ehud Barak bemerkt hat. Die zweite besteht darin, die Islamisten in der Region auszutrocknen, egal, ob „moderat“, „militant“ oder „dazwischen“. Das bedeutet, die Türkei, Saudi-Arabien und Katar zu überreden, ihre Unterstützung einzustellen, als Gegenleistung für eine kombinierte Anstrengung der Großmächte, die Sicherheit der syrischen Zivilisten innerhalb ethnischer Enklaven zu sichern.

In diesem Szenario wird Syrien für Jahre in einem ethnischen Konflikt niedriger Intensität verharren, was besser ist als ein ethnischer Konflikt hoher Intensität. Der Iran wird in angespannter wirtschaftlicher Lage weiterexistieren, ohne die Fähigkeit reale oder eingebildete Antagonisten mit Massenvernichtungswaffen zu bedrohen. Was das Königreich Saudi-Arabien betrifft: Seine Zerbrechlichkeit hat westliche Planer seit Jahren beunruhigt. Möge Allah einen Ausweg finden.

Autor: Stefan O. W. Weiss

Leon de Winter zählte die Kolumnen von David P. Goldman, besser bekannt unter seinem nom de plume „Spengler“, „zu den allerinteressantesten, die es weltweit zu lesen gibt“. Seine Texte, die er meist in „Asia Times“ und „PJMedia“ veröffentlicht, haben eine Leserschaft gefunden, die in die Hunderttausende geht. Er behandelt so verschiedene Themen wie Philosophie, Literatur, Wirtschaftswissenschaften, Theologie, Strategie, Weltpolitik, Musik und andere mehr mit gleicher Souveränität und Kompetenz. In Deutschland ist er ein Geheimtipp geblieben, bedauerlicherweise, da er ein vorzüglicher Kenner der deutschen Geistesgeschichte ist. Seine Essays über Wagner, Goethe, Schiller seien doch wenigstens en passant erwähnt. Um dem deutschen Leser die Lektüre zu erleichtern, beabsichtige ich, in diesem Blog seine Texte fortlaufend in Deutsche zu übersetzen. Ich habe dieses Projekt seit einigen Monaten verfolgt, der erste hier auf Deutsch veröffentliche Text stammt vom Oktober 2015. In den kommenden Wochen gedenke ich, seine nachfolgenden Texte in chronologischer Reihenfolge zu veröffentlichen, bis der Anschluss zu Gegenwart erreicht ist.

7 Kommentare zu „Spengler auf Deutsch 25: Die aktuelle Lage in Syrien – hoffnungslos, aber nicht ernst“

    1. Nein, nein. Die EZB will die Inflation anheizen! Draghi meint, wir hätten nicht genug davon. Da könnte man Spengler varieren: „Es klingt verrückt, bzw. würde verrückt klingen, wenn es jemand anders als Draghi sagen würde“.

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      1. stefan, leider wird die nullrunde nicht das gewünschte ergebnis liefern.
        warten wir heute die ergebnisse der landtagswahlen in sachsen, bawü und rlp ab.

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