Spengler auf Deutsch 9: Glück hat damit nichts zu tun

Der Originaltext erschien am 29.  NOVEMBER 2015 unter dem Titel „Luck had nothing to do with it“ in Aisa Times

Übersetzt von Stefan O. W. Weiß

Buchbesprechung: If You Really Want to Change the World, von Henry Kressel und Norman Winarsky, Harvard Business Review Press, 2015; 215 Seiten, 30 US-Dollar.

Henry Kressel war dreißig Jahre lang der Seniorpartner in der Technologieabteilung von „Warburg Pincus“, einem der erfolgreichsten Privat- und Risikokapitalgesellschaften; vorher hatte er eine glänzende wissenschaftliche Karriere in der Entwicklungsabteilung von RCA (Radio Corporation of America, ein bedeutendes Technologieunternehmen) gemacht. Norman Winarsky leitete die Risikokapitalabteilung von SRI International (ursprünglich gegründet als „Stanford Research Institute“), eine der großen Ideenfabriken in Silicon Valley. In diesem kompakten Band bieten sie eine Schritt-für-Schritt-Anleitung, wie man weltverändernde neue Unternehmen mit milliardenschwerer Börsenbewertung gründet. Warum enthüllen sie ihre Geheimnisse? Tatsächlich sind es keine Geheimnisse, nur eine Reihe von Filtern, welche die große Mehrheit der Wettbewerber aus dem Rennen wirft.

Es ist eher eine belehrende als eine inspirierende Erzählung, und viele der tiefsten Einsichten des Buches finden sich in ihrer Diagnose, was mit scheinbar todsicheren Projekten schiefging. Große neue Unternehmen erfordern die richtige Technologie für die richtige Marktlücke, das richtige Management für die richtigen Kunden, die richtigen Investoren für die richtigen Geschäftsführer, die richtigen Finanzkontrollen für den richtigen Durchbruch. Es klingt einfach und ist es auch. Es erfordert Visionen, Erfahrung, Kontakte und gesunden Menschenverstand, um all diese Elemente zusammen in einem Unternehmen zu vereinen. Es gibt wenige Risikokapitalgesellschaften, welche die nötige Intelligenz und Bandbreite vereinen, aber sie erzielen eine erstaunlich große Zahl von Erfolgen.

Kressel und Winarsky haben keine Geduld mit der populären Ansicht, dass junge Unternehmen aus Fehlern lernen, sich durch Versuch und Irrtum entwickeln sollen. Sie schreiben:

„Misserfolge sind de rigueur, insbesondere in Software-Unternehmen, die anfänglich wenig Kapital und kleine Belegschaften erfordern. Die Idee scheint einfach: Man hat ein bestimmtes Konzept, holt ein Team zusammen und startet das Unternehmen. Man entwickelt ein gerade noch brauchbares Produkt, testet verschiedene Märkte und Produkthypothesen, und entscheidet gemäß den Rückmeldungen des Marktes. Man erwartet, wiederholt zu scheitern, und hofft, schließlich ein markfähiges Produkt zu entwickeln.

Das mag für die unternehmerische Regionalliga angebracht sein, aber “weltverändernde Gründungen“ haben eine so hohe Schwelle für Kosten und Kompetenz, dass „man nur wenig Aussicht hat, zu überleben, wenn sich das Nutzenversprechen als falsch herausstellt“. Entweder man weiß von Anfang an, was man tut, oder man weiß es nicht. Anpassungsfähigkeit ist eine Sache, aber blind herumpicken, um vielleicht ein Korn zu finden, eine andere.

Kressel und Winarsky unterbreiten dem Leser eine Fülle von Beispielen, die illustrieren, was geht und was nicht. Ihre Fallstudien sind hinreichend, um ihr Buch für die kommenden Jahre zu einem Standardwerk für wirtschaftswissenschaftliche Seminare über Unternehmensführung zu machen. Obwohl sie zumeist auf amerikanische Erfahrungen rekurrieren, ist ihr Buch für asiatische und insbesondere chinesische Unternehmer und Risikoinvestoren von besonderem Interesse. Warburg Pincus hatte außerordentlichen Erfolg mit Investitionen in chinesische Technologieunternehmen und bleibt weiterhin auf dem chinesischen Markt engagiert.

Der interessanteste Einzelfall ist „Siri“[1], Apples persönlicher, sprechender Assistent. „Nur zwei Wochen nachdem wir Siri herausgebracht hatten … bekamen wir einen Anruf von Steve Jobs“, beginnen sie. „Wir hatten angestrebt, einen Durchbruch in diesem Markt zu erzielen, und wir dachten, der Erfolg würde sich in Jahren, nicht Wochen einstellen. Eineinhalb Jahre nach diesem Anruf war Siri die Kernapplikation für einen neuen und sehr populären Service auf den Apple-iPhones geworden. … In den ersten paar Wochen nach seiner Einführung, hatte Siri dazu beigetragen, Aufträge in Milliarden Dollarhöhe für iPhones 4s einzubringen. Wir hatten es geschafft.“

Siris Ziel war es, dem „Konsumenten die Mühe der zu vielen Klicks abzunehmen“. „Gib dem Konsumenten einen Gehilfen, der auf Suchanfragen Antworten statt nur Links liefert“. Als Jobs das Produkt kaufte, war es noch eher ein luxuriöses Spielzeug, als ein praktischer Weg, um Reisen zu buchen oder einen Platz im Restaurant zu reservieren. Der Unterhaltungswert kann der Schlüssel sein zu dem Nutzenversprechen, den Kunden zu „überraschen und zu erfreuen“, wie die Autoren bemerken. Mehr zu diesem Thema wäre willkommen gewesen.

Siri ist die heißeste Geschichte unter den Fallstudien, welche die Autoren berichten, aber auch die am wenigsten typische, da Steve Jobs ihnen ein Angebot machte, das sie nicht ablehnen konnten. „Wir wollten nicht verkaufen“, räumen die Autoren ein. „Wir glaubten, dass der Wert des Unternehmens nahezu mit Sicherheit steigen würde, in dem Maße, in dem wir fortfuhren, neue Versionen von Siri unserer Planung gemäß zu entwickeln“. Aber „Jobs machte ein Angebot, das eine hinreichende Kapitalrendite darstellte“. Jobs hatte auch die Option, Apples Ingenieure einen Wettbewerb mit dem Startup-Unternehmen austragen zu lassen.

Die Entscheidung, Siri an Apple zu verkaufen, ist zentral für das Anliegen der Autoren. Zu wissen, wann man einsteigen und wann man aussteigen muss, ist die halbe Miete. Startups brauchen mehr als eine gute Idee. Sie brauchen den richtigen Plan, die richtigen Leute, um ihn zur richtigen Zeit auszuführen, eine klare Vorstellung, was die Kunden wollen und was die Kunden akzeptieren werden, und die Disziplin, beim Kurshalten Finanzkontrolle und Buchhaltung im Blick zu halten. Sie müssen wissen, ob sie ein Projekt sind, das an ein weiterführendes Unternehmen zu verkaufen ist, oder der Beginn eines neuen Unternehmens, das den es umgebenden Wirtschaftsraum verändern wird.

Kressel und Winarsky bieten die obligatorische Checkliste, was in einen Geschäftsplan gehört, wie man Risikokapitalanleger gewinnt, und wie man den Wettbewerbshorizont einschätzen kann. Ihre Diagnose, wie neue Unternehmen scheitern, ist gleichwohl bemerkenswert für ihre Gründlichkeit und die Fülle an Beispielen.

Sie haben eine Innovation – eine wirklich neue, umwerfende Technologie? Herzlichen Glückwunsch, sie sind die Laborratte für ihre Wettbewerber, die von der Seitenlinie her beobachten, wie sie Geld für Forschung und Entwicklung ausgeben, den Markt testen, Schwachstellen ausbügeln und den Weg für andere ebnen, die sie überrollen werden.

Nehmen wir an, sie haben eine narrensichere Innovation, eine Technologie, die niemand anderer produzieren und vermarkten kann. Aber wollen ihre Kunden eine Innovation? Eine von SRIs Misserfolgen war eine Kommunikationstechnologie namens „PacketHop“. Mitglieder des Katastrophenschutzes starben am 11. September teilweise deshalb, weil Feuerwehrmänner, welche die Treppen der Twin Towers hinaufeilten, nie den Befehl erhielten, umzukehren. SRI fand eine Lösung, ein „drahtloses Netzwerk, über das Meldungen von einem Handsender zum nächsten Handsender automatisch weitergeleitet wurden“, oder „eine lokale Version des Internets“. PacketHop beruhte auf von der Regierung finanzierter Technologie, die zunächst für andere Zwecke entwickelt worden war und große Investoren anzog. Und die Regierung stand bereit, Milliarden zu investieren, um die Kommunikation der ersten Sender zu verbessern.

Das Problem, berichten Kressel und Winarsky, war, dass die Nutzer von „Notfall-Sendern“ – PacketHops anvisierte Kunden – „von Natur aus konservativ waren und zögerten, von einer wohlbekannten Marke wie Motorola zu einem unbekannten Produkt zu wechseln, selbst wenn es besser war. Gleichgültig wie wertvoll dieses neue, problemlose, kostengünstige Produkt war, die Kunden waren entschlossen, das, was eine seit langem bestehende Beziehung war, aufrechtzuerhalten“. Sie wollten keine Innovation, selbst wenn Leben auf dem Spiel standen. SRI machte, was die Autoren den fatalen Fehler Nr. 1 nennen: „Unkenntnis deines Kunden.“

Angenommen du hast eine bedeutende Innovation und Kunden, die Innovationen wollen, und du hast ein großartiges Team von Ingenieuren. Du beginnst, dein neues Unternehmen zu führen, und stellst fest, dass du der schlechtestmögliche Geschäftsführer bist. Du bist verliebt in deine neue Technologie, aber unfähig, eine Truppe genialer Solisten zu dirigieren. Du hättest einen Geschäftsführer mit der erwiesenen Fähigkeit, Ideen in erfolgreiche Unternehmen zu verwandeln, engagieren sollen. Wenn du dieser Gefahr entgangen bist und einen für Gründungen geeigneten Geschäftsführer gefunden hast, dann muss dieser wissen, wann es an der Zeit ist, das Unternehmen an eine andere Art von Manager zu übertragen.

„Obwohl du ein großes Unternehmen gegründet hast, verfügst du vielleicht nicht über die Fähigkeiten, es durch all die Stadien seines Wachstums zu geleiten … Der Punkt, an dem viele Geschäftsführer scheitern, ist der Übergang von der lockeren Atmosphäre eines Jungunternehmens zu einer größeren und stärker geordneten Organisation.“ Die Autoren nennen dies den fatalen Fehler Nr. 2: „Festhalten am falschen Geschäftsführer“.

Der fatale Fehler Nr. 3 ist schlechte Finanzverwaltung und der fatale Fehler Nr. 4 übermäßiges Selbstvertrauen. Tödlich für neue Unternehmen ist der fatale Fehler Nr. 5, „die Unfähigkeit, künftige Entwicklungen in der Industrie zu antizipieren“. Das betrifft die Preisgestaltung für das, was man als hochinnovative Produkte ansieht, sich ändernde industrielle Standards und die Unfähigkeit, auf neue Technologien zu reagieren.

Zentral für jedes Unternehmen ist das Leistungsversprechen, die Frage „wie willst du dem Kunden eine Leistung liefern und wie wird diese Leistung von dem Kunden Erträge zu Kosten generieren, die das Unternehmen profitabel machen?“ Innovative Technologien können das Leistungsversprechen erhöhen, aber sie müssen es nicht. „Das kann zutreffen,“ behaupten die Autoren, „wenn die Kosten, wegen der neuen Technologie oder der Vertriebswege oder der Mehrwertdienste (oder einer Kombination all dieser Faktoren), tatsächlich geringer sind und wenn das Produkt nicht leicht von anderen kopiert werden kann. Dann hat man einen nachhaltigen Vorteil.“

Der väterliche Rat der Autoren erinnert an George Gilders Witz, dass ein Unternehmer zu der Sorte von Menschen gehört, die Nacht für Nacht die Routen der Müllabfuhr studieren. Was erfolgreiche Unternehmer von anderen unterscheidet, ist gediegene Vorbereitung: erschöpfende Kenntnis der Technik, der Märkte, Vorschriften, Kunden, Investoren und Manager.

Warum etwa verweisen die Autoren auf “RDA, ein chinesisches Halbleiter-Start-up, das sich zu einem großen Unternehmen entwickelte, indem es den lokalen Herstellern von Mobiltelefonen Niedrigpreischips verkaufte, die importierte Chips ersetzten“? Warburg Pincus konnte sein ursprüngliches Investment 2014 etwa verdreifachen, als Tsinghua Holdings für etwas mehr als 900 Millionen Dollar RDA kauften. RDA beschäftigte festlandschinesische Ingenieure in einem Bereich, der lange von taiwanesischen und koreanischen Entwicklern dominiert worden war, und unterbot sie.

Die Erfolgsgeschichte von RDA ist die erste von vielen chinesischen Gründungen, welche die westliche Vorherrschaft in technologischen Kernbereichen herausfordern. Wie gesagt, die Aufnahmebereitschaft der Konsumenten für Innovationen ist ebenso wichtig wie die Fähigkeit der Unternehmer, Innovationen anzubieten. Diesen Punk hat der Nobelpreisträger Edmund Phelps in seinem 2013 erschienenen Buch „Mass Flourishing“ vertieft behandelt. In seiner Untersuchung der Industriellen Revolution zeigt Phelps, dass die üblichen Verdächtigen für den großen ökonomischen Aufbruch des 19. Jahrhunderts, die Wissenschaftler, Ingenieure und Unternehmer, lange vorher vorhanden waren. Was den nach 1815 einsetzenden Aufschwung an Produktivität und Lebensstandard antrieb, waren nicht bestimmte Innovationen, sondern eher der Wille von Millionen von Menschen, Innovationen begeistert anzunehmen.

Nach der großen Welle der Urbanisierung, die in den letzten 35 Jahren fast 600 Millionen Chinesen vom Land in die Stadt umsiedelte, sind die Chinesen vielleicht stärker bereit, sich auf Masseninnovationen einzulassen als jedes andere Volk in der Geschichte. Als ich Phelps‘ Buch letztes Jahr für die britische Zeitschrift „Standpoint” rezensierte, stellte ich die Frage, ob China den Westen bei Innovationen übertreffen wird – nicht in rein wissenschaftlichen Entdeckungen, sondern in der massenhaften Adaption von Innovationen insbesondere in der Einzelhandels- und Finanzsphäre. In Asien wird noch Raum für viele große Unternehmen mit umwerfenden Innovationen sein, und Kressel und Winarsky mögen dort leicht eine größere Leserschaft als in ihren Heimatländern finden.

[1] Abkürzung für „Speech Interpretation and Recognition Interface“, eine Software, die der Erkennung und Verarbeitung von natürlich gesprochener Sprache dient, und so die Funktion eines persönlichen virtuellen Assistenten erfüllen soll.

Autor: Stefan O. W. Weiss

Leon de Winter zählte die Kolumnen von David P. Goldman, besser bekannt unter seinem nom de plume „Spengler“, „zu den allerinteressantesten, die es weltweit zu lesen gibt“. Seine Texte, die er meist in „Asia Times“ und „PJMedia“ veröffentlicht, haben eine Leserschaft gefunden, die in die Hunderttausende geht. Er behandelt so verschiedene Themen wie Philosophie, Literatur, Wirtschaftswissenschaften, Theologie, Strategie, Weltpolitik, Musik und andere mehr mit gleicher Souveränität und Kompetenz. In Deutschland ist er ein Geheimtipp geblieben, bedauerlicherweise, da er ein vorzüglicher Kenner der deutschen Geistesgeschichte ist. Seine Essays über Wagner, Goethe, Schiller seien doch wenigstens en passant erwähnt. Um dem deutschen Leser die Lektüre zu erleichtern, beabsichtige ich, in diesem Blog seine Texte fortlaufend in Deutsche zu übersetzen. Ich habe dieses Projekt seit einigen Monaten verfolgt, der erste hier auf Deutsch veröffentliche Text stammt vom Oktober 2015. In den kommenden Wochen gedenke ich, seine nachfolgenden Texte in chronologischer Reihenfolge zu veröffentlichen, bis der Anschluss zu Gegenwart erreicht ist.

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