Spengler auf Deutsch 55: Beklagenswerterweise wird Trump gewinnen

Das Original erschien am 11. September 2016 unter dem Titel “Deplorably, Trump is Going to Win” in Asia Times.

Die Präsidentschaftswahl war zu Ende in dem Moment, in dem Hillary Clinton das Wort “deplorable” (kläglich, beklagenswert)[1] aus dem Gehege ihrer Zähne entließ. Wie jetzt die ganze Welt erfahren hat, sagte Frau Clinton am 10. September einem lesbisch-schwulen-bisexuellen-transgender Spendensammler: “Wissen Sie, um einmal grob zu generalisieren, Sie können die Hälfte von Trumps Anhängern in das stecken, was ich den ‚Korb der Beklagenswerten‘ nenne. Nicht wahr? Diese Rassisten, Sexisten, Homophoben, Xenophoben, Islamophoben – sie haben es erwähnt. Und unglücklicherweise gibt es solche Leute, und er hat sie ans Licht gebracht“.

Hillary kann man vergessen.

Sicher, sie entschuldigte sich, aber niemand wird ihr glauben: sie war entspannt vor ihrem heimischen Publikum und fühlte die Wärme, und sie sagte genau das, was sie dachte. Die „Clinton Cash“-Korruptionsskandale, die immer neuen Lügen über ihren E-Mail-Server, Gesundheitsprobleme und all die anderen Probleme, die sich vor der ehemaligen First Lady auftürmen, sind Kleinigkeiten verglichen mit diesem apokalyptischen Moment der Selbstenthüllung.

Man kann keine amerikanische Präsidentschaftswahl gewinnen ohne die Stimmen der Beklagenswerten. Beklagenswerte sind Amerikas größte Minderheit. Sie könnten sogar die amerikanische Mehrheit sein. Sie mögen Rassisten, Homophobe und so weiter sein, aber sie wissen, sie sind beklagenswert. Beklagenswert und stolz. Sie sind die Durchschnittsfamilie, deren Realeinkommen beklagenswerterweise in den letzten 10 Jahren um 5 % gesunken ist; sie sind die 35 % der erwachsenen Männer, die beklagenswerterweise aus dem Arbeitsmarkt ausgestiegen sind, sie sind die 40% Schuldner von Studentendarlehen, die beklagenswerterweise ihre Kredite nicht zurückzahlen können; sie sind die alternden Beamten und Staatsangestellten, deren Pensionsfonds ein Defizit von vier Billionen Dollar aufweist. Sie führen ein beklagenswertes Leben und erwarten, dass das Leben ihrer Kinder noch beklagenswerter sein wird als ihr eigenes.

Amerikaner sind generell nicht nachtragend. Sie haben Bill vergeben, dass er mit Monica „Ich hatte keinen Sex mit dieser Frau“ Lewinsky im Oval Office herumgetollt ist und sich einer Anzahl unwilliger Frauen aufdrängte. Sie mögen selbst Hillary vergeben, dass sie Zehntausende kompromittierender E-Mails auf einem illegalen privaten Server verloren hat und dann wiederholt über dieses Thema in einer Weise gelogen hat, welche die beklagenswerte Intelligenz des Durchschnittswählers beleidigt. Aber es gibt eins, das du mit ihnen nicht tun kannst: sie anspucken und ihnen erzählen, es regnet. Das werden sie dir niemals verzeihen. Das schmerzt, und sie hassen Kandidaten, die sie daran erinnern.

Mitt Romneys Wahlkampagne 2012 war nicht mehr zu retten nach seiner berühmten „47 %-Bemerkung“, mit der er lediglich meinte, das 47 % der amerikanischen Arbeiter, deren Einkommen unter der Schwelle für bundesweite Steuern blieb, von seinen vorgeschlagenen Steuersenkungen nicht profitieren würden. Aber diese Arbeiter zahlen recht hohe Steuern, nämlich Sozialabgaben, Krankenversicherung und vielfach für lokale Behörden in Form von Mehrwertsteuer und kommunalen Steuern. Nachdem ein verstecktes Video mit dieser Bemerkung bei einem privaten Spendensammler die Runde machte, verbrachte Romney den Rest seiner Kampagne mit dem Äquivalent einer Anzeigentafel über seinem Kopf, versehen mit den Worten: „Ich repräsentiere die wirtschaftliche Elite“. Clinton hat dasselbe gemacht und repräsentiert die kulturelle Elite.

Sicher, es gibt Rassisten und Schwulenhasser in Trumps Lager. Jedermann muss irgendwo sein. Jedenfalls ist Trump kein Puritaner und schert sich nicht darum, welche Art von Sex die Leute haben oder wer welches Badezimmer benutzt oder wer wen heiratet. Vor zwei Jahrzehnten hat er einen neuen Country Club in Palm Beach gebaut, weil der alte Schwarze und Juden ausschloss. Er ist kein Rassist. Er ist ein widerwärtiger, vulgärer Geschäftsmann, der Politik wie eine Reality-Show inszeniert. Ich habe klargestellt, dass ich für ihn stimmen werde, nicht weil er meine erste Wahl unter den republikanischen Kandidaten wäre (das war Senator Ted Cruz), sondern weil ich glaube, dass die Herrschaft des Gesetzes eine Voraussetzung für eine freie Gesellschaft ist. Wenn die Clintons einen Freifahrschein für Einflussnahme auf einer mehrere hundert Millionen Dollar Scala bekommen und noch dazu für die Verschleierung des illegalen Gebrauchs von privaten Kommunikationsmitteln für Regierungsdokumente, ist die Herrschaft des Gesetzes nur noch ein Witz in den Vereinigten Staaten. Selbst wenn Trump ein schlechterer Präsident als Clinton wäre – was er wahrscheinlich nicht ist -, würde ich schon allein aus diesem Grund für ihn stimmen.

Nicht deswegen hat Trump die republikanischen Vorwahlen gewonnen. Er hat gewonnen, weil die Amerikaner es leid sind, eine wirtschaftliche Elite zu haben, die sie ignoriert. Die Amerikaner wissen, dass mit gezinkten Karten gespielt wird. Über Generationen konnten Amerikaner an die Spitze aufsteigen, indem sie ein Unternehmen gründeten. Es gab Zeiten, in denen mehr von ihnen Erfolg hatten als in anderen, aber jeder kannte irgendjemand, der auf mehr oder weniger ehrenwerte Weise reich wurde. Das kam unter der Obama-Regierung zu einem abrupten Ende. 2013 gab es weniger kleine Unternehmen mit weniger Arbeitskräften als 2007.

Niedergang kleiner Unternehmen zwischen 2007 und 2013, dargestellt nach Anzahl und beschäftigten Arbeitskräften (Census Bureau)

Größe des Unternehmens Anzahl der Firmen Anzahl der Unternehmen Beschäftigung
02:  0-4 -129,985 -130,063 -212,803
03:  5-9 -67,969 -69,904 -451,075
04:  10-19 -44,291 -48,177 -598,105
05:  <20 -242,245 -248,144 -1,261,983
06:  20-99 -29,358 -38,422 -1,225,253
07:  100-499 -3,322 4,737 -556,311
08:  <500 -274,925 -281,829 -3,043,547
09:  500+ 325 65,164 705,535

Die Beklagenswerten sehen die amerikanische Wirtschaft als eine Lotterie. Sie sind ungebildet, aber gerissen: Sie wissen, die Karten sind gezinkt, weil keiner von ihnen gewinnt. Die amerikanische Wirtschaft ist korrupter und stärker kartellisiert als jemals zuvor. Das Produktivitätswachstum war negativ in den letzten beiden Quartalen und das Produktivitätswachstum der letzten fünf Jahre ist am niedrigsten seit der Stagflation in den 1970ern.

Großunternehmen verdienen ihr Geld eher durch Manipulation des Regulationssystems als durch Einführung neuer Technologien. Wie eine Studie vom Juni 2016 des Wirtschaftswissenschaftlers Jim Bessen von der Universität von Boston gezeigt hat, geht fast die Hälfte des Anstiegs der Profite von Großunternehmen im letzten Jahrzehnt auf Vetterleswirtschaft (Rent-Seeking[2]) zurück. Bessen zufolge trugen “Investitionen in konventionelle Vermögenswerte und in Forschung und Entwicklung … zu einem wesentlichen Teil zu dem Anstieg an Werten und Profiten vor allem während der 1990er bei. Seit 2000 jedoch beruht der Anstieg zu einem überraschend großen Teil auf politischer Aktivität und Regulationen.”

Darum hat Trump die Vorwahlen gewonnen. Ted Cruz, ein evangelikaler Christ, warb um die religiösen Wähler (die Hillary für „homophob“ hält), aber die Evangelikalen stimmten größtenteils für Trump. Sie wollen einen Außenseiter mit einem großen Besen, der hereinkommt und das Establishment hinauskehrt, weil das Establishment ihnen in den letzten acht Jahren bedauerlich wenig Krümel vom Tisch abgegeben hat. Wie „Publius“ am 5. September in der Claremont Review schrieb: “Eine Hillary Clinton-Präsidentschaft ist wie Russisches Roulette mit einem halbautomatischen Revolver. Mit Trump kannst du wenigstens die Trommel drehen und deine Chance suchen”.

Es gibt eine Anzahl Maßnahmen, von denen ich gern hätte, dass Trump sie als Präsident ergreift. Aber ich habe keine Ahnung, was er als Präsident tun wird. Beklagenswerterweise werden wir es herausfinden.

[1] „Deplorable“ ist schwer zu übersetzen. Das deutsche „beklagenswert“ entspricht ihm nur teilweise, da „deplorable“ einen negativ-abwertenden Beiklang hat, der dem deutschen „beklagenswert“ fehlt. Die meisten Wörterbücher geben denn auch „schändlich“ als zweite Bedeutung an.

[2] Rent-Seeking aus engl. rent, ‚Pacht‘, ‚Miete‘, + to seek, ‚erstreben‘, ‚begehren‘) bezeichnet nach der neoklassischen Theorie ein Verhalten ökonomischer Akteure, das darauf zielt, staatliche Eingriffe in die marktvermittelte Ressourcenallokation herbeizuführen, um sich hierdurch künstlich geschaffene Renteneinkommen aneignen zu können. Einfach ausgedrückt fasst man darunter Aktivitäten Einzelner oder von Interessengruppen zusammen, die im politischen Prozess Einfluss nehmen. Sofern Rent-Seeking nicht mit der Bestechung von Entscheidungsträgern verbunden ist (im Sinne von Korruption), bezeichnet man den Prozess auch als Lobbying. Ein Beispiel für erfolgreiches Rent-Seeking wäre, wenn ein Unternehmer durch Bestechung eines Beamten eine Lizenz für ein Spielkasino erhält, das er in einem sonst nur als Lagerhalle nutzbaren Gebäude einrichten kann. Die Opportunitätskosten liegen in den entgangenen Vermietungseinnahmen für die Lagerhalle. (aus Wikipedia).

Autor: Stefan O. W. Weiss

Leon de Winter zählte die Kolumnen von David P. Goldman, besser bekannt unter seinem nom de plume „Spengler“, „zu den allerinteressantesten, die es weltweit zu lesen gibt“. Seine Texte, die er meist in „Asia Times“ und „PJMedia“ veröffentlicht, haben eine Leserschaft gefunden, die in die Hunderttausende geht. Er behandelt so verschiedene Themen wie Philosophie, Literatur, Wirtschaftswissenschaften, Theologie, Strategie, Weltpolitik, Musik und andere mehr mit gleicher Souveränität und Kompetenz. In Deutschland ist er ein Geheimtipp geblieben, bedauerlicherweise, da er ein vorzüglicher Kenner der deutschen Geistesgeschichte ist. Seine Essays über Wagner, Goethe, Schiller seien doch wenigstens en passant erwähnt. Um dem deutschen Leser die Lektüre zu erleichtern, beabsichtige ich, in diesem Blog seine Texte fortlaufend in Deutsche zu übersetzen. Ich habe dieses Projekt seit einigen Monaten verfolgt, der erste hier auf Deutsch veröffentliche Text stammt vom Oktober 2015. In den kommenden Wochen gedenke ich, seine nachfolgenden Texte in chronologischer Reihenfolge zu veröffentlichen, bis der Anschluss zu Gegenwart erreicht ist.

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