Spengler auf Deutsch 16: Michael Wyschogrod, Nestor der orthodoxen jüdischen Theologen, stirbt mit 87 Jahren

Der Originalartikel erschien am 18. Dezember 2015 unter dem Titel „Michael Wyschogrod, Dean of Orthodox Jewish Theologians, Dies at 87“ im „Tablet Magazine

Der jüdische Philosoph Michael Wyschogrod starb am 17. Dezember (2015) im Alter von 87 Jahren nach einer langen Krankheit. Er war alt genug, um mit seinem Vater gegenüber der Berliner Hauptsynagoge gestanden zu haben, als diese in der „Kristallnacht“ (auch im Original deutsch) verbrannt wurde. Die Braunhemden entrollten eine Thorarolle auf der Straße und ließen Passanten für einen Groschen der Länge nach auf ihr herumtrampeln. Wyschogrod entkam aus Deutschland mit seiner Familie Anfang 1939, gerade als die Tore sich schlossen; er erhielt ein amerikanisches Visum dank eines Onkels in Atlanta, dessen Arbeitgeber einen amerikanischen Senator kannte. Er war ein „dem Feuer entrissenes Holzscheit“. Und vielleicht war er unsere letzte lebendige Verbindung zu der Begegnung der jeschiwa-erzogenen orthodoxen Juden mit der europäischen Philosophie.

Erzogen an einer jiddischsprachigen orthodoxen Ganztagsschule, der Jeschiwa „Vodaath“ in Brooklyn, bezog Wyschogrod die Columbia-Universität und promovierte mit einer Dissertation über Kierkegaard und Heidegger. Gleichzeitig besuchte er Rav Joseph Soloveitchiks Talmud-Kurs an der „Yeshiva University“. Er ermahnte gläubige Juden, abendländische Philosophie zu studieren, um ihre eigene Tradition besser zu verstehen, aber er bot eine spezifisch jüdische Lösung für die Krise der abendländischen Philosophie des 20. Jahrhunderts. Sein Einfluss war enorm. Rabbi Lord Jonathan Sacks sagte mir einst, Wyschogrod sei das, was einer systematischen Theologie des Judentums am nächsten komme. Aber in der Gemeinschaft, die er für den obersten Richter über sein Werk hielt, nämlich die der Thora befolgenden Juden, war sein Einfluss nicht so groß, wie er hoffte. Das hat sich in den letzten Jahren geändert, und Wyschogrods zahlreiche Schriften werden jüdischen Gelehrten in den kommenden Jahren als Wegweiser dienen.

Sein bevorzugter christlicher Philosoph, Søren Kierkegaard, beschreibt den „Glaubensritter“, der in seiner Beziehung zu Gott so sicher ist, dass sein tägliches Leben eine Quelle der Freude wird. Wyschogrod war ein Ritter aus Kierkegaards Orden. In seiner Frau, der angesehenen Philosophin Prof. Edith Wyschogrod, fand er eine lebenslange Seelengefährtin, die ihm intellektuell ebenbürtig war. Als man Edith eine Stelle an der Rice-Universität in Houston anbot, zog Wyschogrod von der New Yorker zur Universität von Houston, und freute sich, Erstsemester zu unterrichten, welche die Bibel von Grund auf kannten. Sie hatten zwei Kinder und fünf Enkelkinder.

Michael Wyschogrod sah die Welt mit Ironie, aber ohne eine Spur von Verbitterung. Kurz vor seiner endgültigen Krankheit reiste er mit seinen Enkelkindern nach Berlin, um zu sehen, wo er seine Jugend verbracht hatte. Sich der Kristallnacht (auch im Original deutsch) erinnernd, merkte er an, dass die Berliner über das Wüten der Nazis keineswegs erbaut waren. Er scherzte über deutschen Antisemitismus, entwickelte enge Beziehungen mit deutschen Kollegen und sah sein Hauptwerk in deutscher Sprache erscheinen.

Seine Dissertation war das erste englischsprachige Werk über die Philosophie  Martin Heideggers, dessen Mitgliedschaft in der Nazipartei (und seine Weigerung, sich dafür zu entschuldigen) ein Skandal in der philosophischen Welt bleibt. Wyschogrod verweigerte jeden Kontakt mit Heidegger, aber beteiligte sich nie an den rituellen Exorzismen des Philosophen wegen seines Antisemitismus. Sehr viel interessanter – meinte Wyschogrod – ist, warum Heideggers Antisemitismus so gedämpft war; er weigerte sich beispielsweise, die Widmung an seinen jüdischen Lehrer Edmund Husserl von der 1935 erschienenen Edition seines Hauptwerkes zu entfernen. Es war bezeichnend für Wyschogrods Charakter, dass er es lohnender fand, zu verstehen als zu verurteilen.

Gottes Vorliebe für Israel war das große Thema von Wyschogrods eigenen Studien. Die jüdische Geschichte beginnt mit einem Akt unerklärlicher Liebe. Gott verliebt sich in Abraham und seinetwegen liebt er dessen Nachkommen. Wyschogrods meistgelesenes Buch, The Body of Faith[1], erklärt „das Judentum als eine Religion der Verkörperung, deren Zweck darin besteht, das reale, physische jüdische Volk zu heiligen, so dass es als Gefäß dienen kann für Gottes Einwohnung (Schechina) in dieser Welt. Sein Studium Kierkegaards und anderer christlicher Philosophen bekräftigte seine Ansicht, dass das Judentum eine inkarnierte Religion ist. Das Göttliche ist physisch präsent in dem jüdischen Volk. Ohne das christliche Konzept der Inkarnation zu kennen, schrieb Wyschogrod, hätte er die jüdische Tradition nicht derart genau verstanden.

Sein Lehrer, Joseph Soloveitchik, vermied theologische Dialoge mit Christen, obwohl er Dialoge über ethische und moralische Themen ermutigte. Wyschogrod war anderer Ansicht, und lieferte über ein halbes Jahrhundert herausragende Beiträge zum jüdisch-christlichen Dialog. Selbst wenn das Christentum Unrecht hat, einen menschlichen Gott zu verehren, argumentierte er, so wirft die christliche Idee der Inkarnation Licht auf ein grundlegendes jüdisches Konzept: das Gottes Einwohnung sich in dem physischen jüdischen Volk manifestiert. Wie die Weisen der Antike sagten: die Schechina ging mit dem jüdischen Volk nach der Zerstörung des Tempels ins Exil.

Anders als christliche Theologen, die jüdischen Partikularismus im Kontrast zu christlichem Universalismus sehen, betonte Wyschogrod, dass Gottes erste Liebe für Israel Liebe für die gesamte Menschheit nicht ausschließt. Im Gegenteil: „Wenn wir erfassen, dass die Auserwähltheit von Israel aus der Väterlichkeit entspringt, die sich auf alle, die nach dem Bild Gottes geschaffen sind, ausdehnt, dann finden wir uns selbst brüderlich verbunden mit allen Menschen, so wie Joseph, der von seinem menschlichen Vater bevorzugt wurde, sich selbst verbunden fand mit seinen Brüdern. Und wenn man dieses Mysterium bedenkt, dass der Ewige, der Schöpfer des Himmels und der Erde, sich entschieden hat, der Vater seiner Kreaturen zu werden, statt selbstgenügsam er selbst zu bleiben, so wie das Absolute der Philosophen, dann schäumt im Menschen jener Lobpreis auf, der so rar geworden, aber so natürlich ist“.

Anstelle auf Aristoteles‘ „unbewegten Beweger“, wie Maimonides ihn in seinen philosophischen Schriften verstanden hat, schaute Wyschogrod auf den biblischen Gott, „El kanna“, den leidenschaftlichen (oder „eifersüchtigen“) Gott. Als Philosoph konzentrierte er sich auf Kierkegaards Behauptung, dass Leidenschaft die Quelle des Seins ist und dass des Menschen leidenschaftliche Beziehung zu Gott die uralten Paradoxe der Philosophie neu formuliere. Von Aristoteles bis Heidegger versuchte die abendländische Philosophie, Gott in ein logisches Raster zu zwingen, um so seine Existenz zu beweisen oder um zu versuchen, seine Attribute zu erkennen. „In solchen Erörterungen“, schrieb er, „wird angenommen, dass das Raster größer als Gott ist, und Gott wird dem Raster unterworfen. Aber der Gott Israels ist der Herr aller Raster und keinem unterworfen. Das ist die bemerkenswerte Macht Gottes; die Bibel zögert nicht, von ihm persönlich in anthropomorphen Begriffen zu sprechen. Sie zeigt einen Gott, der in die menschliche Welt und in eine Beziehung mit der Menschheit eintritt durch das Mittel der Sprache und des Befehls. Zur gleichen Zeit transzendiert dieser Gott die Welt, die er geschaffen hat, und ist keiner Macht oder Gewalt unterworfen“.

Der unerschrocken biblische Geist seiner Schriften trennte Wyschogrod von seinen Kollegen, den Philosophen. Seine Unstimmigkeit mit Rav Soloveitchik über die Frage des Dialogs mit Christen verblüffte die orthodoxe jüdische Welt. Und er war meist zerfallen mit den jüdischen Intellektuellen der 1950er und 60er, die Religion völlig ablehnten. In einem 1968 erschienenen Artikel zitierte er den früheren Herausgeber des „Commentary“-Magazins, Eliot Cohen, der diese Strömung als „selbst-hassende Juden“ qualifizierte, „die nur zu begierig waren, ihr Judentum zu begraben, wenn sie so Zutritt zu den literarischen Salons von Manhattan erlangen konnten“.

Gleichwohl wurde Wyschogrod viel gelesen. Während der 1970er und 80er genoss er nahezu Kultstatus unter jungen christlichen Theologen, und es war der methodistische Gelehrte R. Kendall Soulen, der die erste Sammlung seiner Essays unter dem Titel Abraham’s Promise (Abrahams Verheißung) publizierte. Soulen sah Hoffnung für Christen in Wyschogrods leidenschaftlichem Portrait von Gottes Liebe für Israel, er erklärte: Gott wünscht ebenso Erlöser der Welt zu sein, wie der Eine, dessen erste Liebe das Volk Israel ist“. Wie Wyschogrod schrieb: „Weil (Gott) sagte: Ich will die segnen, die dich segnen, und den verfluchen, der dich verflucht; in dir sollen alle Familien der Erde gesegnet sein (Gen. 12.3), hat er die Rettung und seine erlösende Sorge für das Wohlergehen der ganzen Menschheit an seine Liebe für das Volk Israel gebunden“.

Es war vielleicht beshert, daß Ravs Großneffe, Rabbi Meir Soloveichik dem Werk Wyschogrods begegnen würde – nicht an der Jeschiwa Universität, sondern in dem Werk christlicher Theologen – und seine Dissertation über Wyschogrod schreiben würde. So schrieb Meir Soloveichik 2009 in einem Essay für „First Things“: „Für Christen wie Soulen bedeutet das, dass Wyschogrod selbst den Kernpunkt, der Christen am meisten von Juden trennt – die Inkarnation von Jesus – in eine Aufforderung für Christen verwandelt hat, die Heiligkeit von Israel anzuerkennen. … Eine Welt, in der Juden physisch durch den fundamentalistischen Islam und moralisch durch den Säkularismus bedroht werden, eine Welt, wo Juden und Christen getrennte Wege gehen sollten, ist eine Welt, in der Israel – beide, das Volk und das Land – sehr allein sein würden. Und in einer Zeit, in der jüdische Theologie auf der einen Seite Relativismus und auf der anderen instinktive Antichristlichkeit ablehnen muss, ist, glaube ich, Michael Wyschogrod derjenige, der uns den Weg gewiesen hat“.

[1] Deutsche Übersetzung: Gott und Volk Israel. Dimensionen jüdischen Glaubens, Stuttgart (Kohlhammer) 2001.

Autor: Stefan O. W. Weiss

Leon de Winter zählte die Kolumnen von David P. Goldman, besser bekannt unter seinem nom de plume „Spengler“, „zu den allerinteressantesten, die es weltweit zu lesen gibt“. Seine Texte, die er meist in „Asia Times“ und „PJMedia“ veröffentlicht, haben eine Leserschaft gefunden, die in die Hunderttausende geht. Er behandelt so verschiedene Themen wie Philosophie, Literatur, Wirtschaftswissenschaften, Theologie, Strategie, Weltpolitik, Musik und andere mehr mit gleicher Souveränität und Kompetenz. In Deutschland ist er ein Geheimtipp geblieben, bedauerlicherweise, da er ein vorzüglicher Kenner der deutschen Geistesgeschichte ist. Seine Essays über Wagner, Goethe, Schiller seien doch wenigstens en passant erwähnt. Um dem deutschen Leser die Lektüre zu erleichtern, beabsichtige ich, in diesem Blog seine Texte fortlaufend in Deutsche zu übersetzen. Ich habe dieses Projekt seit einigen Monaten verfolgt, der erste hier auf Deutsch veröffentliche Text stammt vom Oktober 2015. In den kommenden Wochen gedenke ich, seine nachfolgenden Texte in chronologischer Reihenfolge zu veröffentlichen, bis der Anschluss zu Gegenwart erreicht ist.

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