Spengler auf Deutsch 46: Güte ist grausam und Grausamkeit ist Güte

Das Original erschien am 14. April 2016 unter dem Titel „To be kind is to be cruel, to be cruel is to be kind” in Asia Times.

Unmittelbar nach dem Angriff auf das World-Trade-Center im September 2001 habe ich gewarnt, dass der radikale Islam den Westen durch Schrecken unterwerfen werde. In Europa ist er seinem Ziel einen riesigen Schritt nähergekommen. Das Erschrecken Europas vor der Aussicht auf menschliches Leiden hat Europa die Kraft geraubt. Je mehr aber die Europäer ihrem humanitären Drang nachgeben, desto mehr werden Muslime leiden. Gut zu sein, heißt grausam sein.

Die Daily Mail hat kürzlich über einen Vorfall an der italienischen Küste berichtet:

Das 240 Fuß lange Boot “Monica” war während der Nacht in internationalen Gewässern gesichtet worden.

Als Boote der italienischen Küstenwache längsseits gingen, waren die Besatzungen schockiert, zu sehen, dass Männer und Frauen an Bord begannen, ihre Babys über dem Wasser hängen zu lassen.

Die Flüchtlinge – meist Kurden, die größtenteils nach England wollten – beruhigten sich erst, als man ihnen versicherte, sie würden nicht aus Italien abgeschoben.

Was sind das für Leute, die drohen, ihre eigenen Babys zu ermorden? Die normale Reaktion wäre, sie zu verhaften und wegen Gefährdung der Kinder ins Gefängnis zu stecken. Stattdessen berichtet die britische Zeitung: „Der Erzbischof von Catania, Luigi Bommarito, war an der Anlegestelle, um die Monica mit – wie er es nannte – ‚einer Geste der Solidarität‘ zu begrüßen‘. Er sagte: ‚Ich bin hier, um an die Menschen zu appellieren, ihre Herzen und Türen nicht vor Menschen zu verschließen, die zu überleben versuchen. Wir dürfen nicht vergessen, dass im letzten Jahrhundert auch viele Emigranten Italien verlassen haben‘“.

Der Monica-Vorfall vervielfältigt sich zehntausendfach auf diplomatischer Ebene. Der türkische Präsident und De-facto-Diktator Recep Tayyip Erdogan drohte im letzten Oktober europäischen Diplomaten mit 10.000 bis 15.000 ertrunkenen Migranten, wie Protokolle zeigen, die einer griechischen Nachrichten-Seite zugespielt wurden und über die in europäischen Mainstreammedien umfassend berichtet wurde – ohne das ein offizielles Dementi erfolgte. Erdogan verlangte sechs Milliarden Euros sofort und drei Milliarden pro Jahr, um den Flüchtlingsstrom zu stoppen, berichten europäische Diplomaten. „Wir können die Tore nach Griechenland und Bulgarien jederzeit öffnen und wir können die Flüchtlinge in Busse setzten. Was wollen Sie mit den Flüchtlingen machen, wenn wir keine Einigung erzielen. Die Flüchtlinge erschießen? Die EU wird mit mehr als einem toten Jungen an der türkischen Küste konfrontiert werden. Da werden 10.000 oder 15.000 sein. Wie wollen Sie damit umgehen?“

Der Führer eines wichtigen muslimischen Landes, der beansprucht für die muslimische Welt zu sprechen, bedroht die Europäer mit 10.000 oder 15.000 muslimischen Toten. Wann in der Weltgeschichte hat in Verhandlungen die eine Seite gedroht, die eigenen Leute zu töten, um einen Vorteil zu erlangen?

Einige Europäer argwöhnen, dass die Türkei bewusst die massenhafte Migration ermutigt hat, welche im Sommer 2015 nach Europa aufbrach, indem sie kriminellen Banden freie Durchreise durch ihr Territorium und über ihre Grenzen gestattete. Das ist schwer zu beweisen, aber es ist kaum zu verstehen, wie Zehntausende von Afghanen, Irakern und Pakistanis durch die Türkei nach Europa hätten reisen können, ohne ein gewisses Maß an türkischer Zusammenarbeit. Künftige Untersuchungen werden diese Frage zu klären haben, was aber aus den genannten Protokollen klar hervorgeht, ist, dass die Türkei die Flüchtlingskrise benutzt, um den Schrecken in eine Waffe zu verwandeln.

Die gleiche grausige Farce wird seit Jahren in Gaza aufgeführt, wo die Hamas Raketen auf israelische Bevölkerungszentren abfeuert, und zwar von zivilen Standorten aus, einschließlich Schulen und Hospitälern, und sich dann über Menschenrechtsverletzungen beklagt, wenn Israel reagiert und gelegentlich Zivilisten tötet. Wie Oberst Richard Kemp, der frühere Befehlshaber der britischen Truppen in Afghanistan und ein Experte für dir Kriegsführung an der israelischen Grenze, beobachtet hat, sind die Zivilisten im Gazastreifen keine menschlichen Schutzschilde, denn ihr Zweck ist nicht, irgendetwas zu schützen, sondern Menschenopfer, die sterben sollen.

Das ist das erste Mal in der Geschichte der Kriegsführung, dass die eine Partei absichtlich anstrebt, ihre eigenen zivilen Verluste zu maximieren, um einen diplomatischen Vorteil zu erlangen. Die Hamas hat den Westen gut verstanden: die reflexartige Antwort des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, der Europäischen Kommission, des Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders und des Rests er aufgeklärten Weltmeinung besteht darin, sich in Schrecken von Hunderten von zivilen Todesfällen abzuwenden, und Israel der exzessiven Gewaltanwendung zu beschuldigen. Die Hamas weiß, was aus dem Mund von Bank Ki-Moon oder Senator Sanders kommen wird, ebenso sicher, wie ich weiß, dass ein Kaugummi aus dem Automat kommen wird, wenn ich einen Vierteldollar einwerfe.

In einem Essay von 15. Oktober 2015 hat der Analyst der “Times of Israel” Haviv Rettig Gur bemerkt, dass die palästinensische Strategie darauf abzielt, Israel auszumanövrieren, indem sie die Weltmeinung gegen die Kollateralschäden aufbrachten, die sie selbst herbeigeführt hatten, um so eine Reaktion hervorzurufen. Er zitiert den palästinensischen Journalisten Mohammed Daraghmeh:

Palästina ist ein internationales Problem. [Dieses Problem] wird nicht gelöst werden durch Messerangriffe oder Akte der Selbstaufopferung [Selbstmordattentate] oder durch Proteste oder Demonstrationen. Es wird nur gelöst werden, wenn die Welt versteht, dass sie die Pflicht hat, zu intervenieren und Grenzen und Linien zu ziehen, so wie sie es in Bosnien-Herzegowina, in Kosowo … tat. Sie mögen fragen: Wie lange? Und ich sage: Der Tag wird kommen. … Sie mögen fragen: Wird der friedliche Kampf ein Ende der Besatzung bringen? Und ich sage: Hat der militärische und bewaffnete Kampf ein Ende gebracht? … Nur die Welt kann eine Lösung herbeiführen.

Der Westen hat Israel lediglich deshalb keine Lösung aufgezwungen, weil Amerikaner auf als Waffe gebrauchten Schrecken anders reagieren als die UN-Bürokratie, der Vatikan oder die Regierung von Schweden. Rund die Hälfte der Amerikaner befürwortet ein Verbot jeglicher muslimischer Immigration in die Vereinigten Staaten. Anderswo in der angelsächsischen Welt mag die Flut muslimischer Migranten den Ausschlag in dem bevorstehenden Juni-Referendum über die britische Mitgliedschaft in der Europäischen Union.

Perverserweise waren es die Vereinigten Staaten, die ein Monster schufen, als die Clinton-Regierung 1998 in den Krieg mit Serbien zog, um die UCK (Befreiungsarmee des Kosovo) – eine fragwürdige Bande albanischer Ganoven, die sich mit Drogen- und Menschenhandel beschäftigte – vor der scharfen Reaktion der Serben auf ihre Provokationen zu bewahren. Muslime wie Mohammed Daraghmeh lernten, dass zumindest ein Teil des Westens ihre Partei ergreifen werde, um humanitäre Katastrophen zu verhindern, selbst dann, wenn die Muslime selbst diese Katastrophen herbeigeführt hätten. Der Papst, der UN-Generalsekretär und Senator Sanders ermutigen die Herbeiführung solcher Katastrophen, indem sie wunschgemäß reagieren.

Schon im Oktober 2001 habe ich argumentiert, dass die massenhafte Opferung mulimischen Lebens der Kern des Schlachtplans des radikalen Islam ist.

Al-Kaida will keine Territorien, keine Konversionen, keine Beute, keine Sklaven. Sie will den Westen zerstören und wird gern Millionen von Muslimen opfern, um das zu erreichen. Tatsächlich dürfte die massenhafte Opferung muslimischen Lebens der Kern ihres Schlachtplans sein. Sie hat mehr gemein mit Dostojewskis „Idiot“ oder Wagners „Götterdämmerung“ als mit den muslimischen Eroberern des Mittelalters.

Das Böse um seiner selbst willen wird nur vorstellbar wenn die christliche Zivilisation des Westens sich vom Christentum abkehrt und in den Abgrund ihrer eigenen Zerstörung starrt. … Die Achillesverse des westlichen Geistes ist der Schrecken. Die Nazis haben das verstanden und verfolgten eine Politik „des Schreckens“ (auch im Original deutsch) und „Entsetzens“ (auch im Original deutsch). Der Schrecken war nicht bloß ein Instrument der Kriegführung im traditionellen Sinne, sondern eine Form wagnerianischen Theaters oder psychologischer Kriegsführung großen Ausmaßes. Hitlers taktischer Vorteil lag in seiner Fähigkeit schrecklicher zu sein, als seine Gegner es sich vorstellen konnten.

Je mehr der Westen seinen humanitären Gefühlen nachgibt – das heißt: seiner Überempfindlichkeit im Angesicht der absolut Bösen – desto mehr werden muslimische Zivilisten leiden müssen, da muslimische Führer von Rakka bis Ankara gelernt haben, Schrecken als Waffe zu gebrauchen. Die Strategie, humanitäre Katastrophen auszulösen, um den Westen zu erpressen, war vielfach erfolgreich. Was wäre nötig, um Leute wie Präsident Erdogan zu überzeugen, dass der Westen Erpressungen nicht nachgeben wird? Die traurige Antwort: Der Westen müsste dem sich ausbreitenden Schrecken an seinen Grenzen mit Indifferenz begegnen. Der Pakistaner, der sich zu Beginn dieses Monats in einem Flüchtlingslager in Lesbos aufzuhängen drohte, wird nicht zu einem elenden Dasein in Pakistan zurückkehren, solange wie ein europäisches Flüchtlingslager nicht noch schlimmer ist. Gütig zu sein, ist grausam sein: es ermutigt schreckliche Ereignisse, herbeigeführt, um das Gewissen des Westens zu manipulieren. Paradoxerweise: grausam sein, ist gütig sein.

Die deutsche Haltung den Flüchtlingen gegenüber ist verständlich, in Anbetracht des anhaltenden Traumas des Zweiten Weltkriegs, wie ich kürzlich hier schrieb. Nichtsdestoweniger sollte Deutschland die meisten seiner Einwanderer zusammentreiben und in ihre eigenen Länder zurückschicken. Das wäre ein schwieriges und schmutziges Geschäft. Die Deutschen wenden ein, dass sie keine Aufseher in Konzentrationslagern sein wollen. Aber das ist keine Entschuldigung; sie könnten Ukrainer anheuern, so wie letztes Mal.

Eine andere perverse Entwicklung ist das Wiedererscheinen von Russland als einer Nah-Ost-Macht. Präsident Wladimir Putin ist kein neuer Stalin, sondern eher der letzte europäische Führer in der nationalistischen Art des 19. Jahrhunderts. Sein relativer Erfolg in Syrien rührt teilweise von seiner Indifferenz gegenüber Kollateralschäden her und seiner Bereitschaft, Russlands Arsenal an kalten Kriegs-Waffen, insbesondere ungelenkte Bomben, zu nutzen. Es wäre eine Tragödie für den Westen, wenn die Initiative in Krisenbewältigung an Russland (und vielleicht China) übergehen würde, einfach deshalb, weil diese Mächte die Skrupel nicht haben, welche den Westen zurückhalten.